Hamburgische Dramaturgie | Page 4

Gotthold Ephraim Lessing
f?hig erblicken. Doch diese Tr?ne ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen M?rtyrer zu seinem Helden w?hlet: da? er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgründe gebe! da? er ihn ja in die unumg?ngliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich der Gefahr blo?stellet! da? er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht h?hnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon berühret, da? es nur ein ebenso nichtswürdiger Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es entschuldiget den Dichter nicht, da? es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war und bei vielen guten Eigenschaften bestehen konnte; da? es noch L?nder gibt, wo er der frommen Einfalt nichts Befremdendes haben würde. Denn er schrieb sein Trauerspiel ebensowenig für jene Zeiten, als er es bestimmte, in B?hmen oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht blo? schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen gefallen, was diese rühren kann, würdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem P?bel herabl??t, l??t sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu best?rken.

Zweites Stück Den 5. Mai 1767
Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, würde über die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So überzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein m?gen, so wenig k?nnen sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen geh?ret, aus den natürlichsten Ursachen entspringen mu?. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen mu? alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgründe zu jedem Entschlusse, zu jeder ?nderung der geringsten Gedanken und Meinungen, müssen, nach Ma?gebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene müssen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen k?nnen. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Sch?nheiten des Detail, über Mi?verh?ltnisse dieser Art zu t?uschen; aber er t?uscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er uns abget?uschet hat, zurück. Dieses auf die vierte Szene des dritten Akts angewendet, wird man finden, da? die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden h?tten bewegen k?nnen, aber viel zu unverm?gend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, da? ihre Eltern diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umst?nde, durch welche die Wirkung einer h?hern Macht in die Reihe natürlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stücke auf dem Theater gehen dürfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Gro?mut und Ermahnungen bestürmet und bis in das Innerste erschüttert worden, l??t er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Gro?es sieht, mehr vermuten, als glauben. Und vielleicht würde Voltaire auch diese Vermutung unterdrückt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas h?tte geschehen müssen.
Selbst der "Polyeukt" des Corneille ist, in Absicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr geworden sind, so dürfte die erste Trag?die, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein Stück, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessierst.--Ist ein solches Stück aber auch wohl m?glich? Ist der Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unver?nderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Züge sind, mit dem ganzen Gesch?fte der Trag?die, welches Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glückseligkeit nach diesem Leben der Uneigennützigkeit, mit welcher wir alle gro?e und gute Handlungen auf der Bühne unternommen und vollzogen zu sehen wünschen?
Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wieviel Schwierigkeiten es zu übersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlegt, w?re also mein Rat:--man lie?e alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgeführet. Dieser Rat, welcher aus den Bedürfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts als sehr mittelm??ige Stücke bringen kann, ist darum nichts schlechter, weil er den schw?chern Gemütern zustatten k?mmt, die, ich wei? nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an
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