Gesammelte Abhandlungen III | Page 7

Ernst Abbe

Sozialdemokratie. Die älteren unter Ihnen erinnern sich wohl noch der
Agitationsrede, welche der »Drechslergeselle August Bebel« im
Sommer 1871[2] hier im Engelsaale gehalten hat. Wenn schon diese in
den meisten Punkten meinen Widerspruch herausforderte, so hat sie
mir doch einen nachhaltigen Impuls gegeben, angesichts der
wirtschaftlichen Vorgänge in meinem Umkreis immer die Augen offen
zu halten und insonderheit alles, woran ich selbst beteiligt war, unter
dem Bewußtsein strenger Verantwortung zu betrachten. Des weiteren
aber waren mir von wesentlicher Hilfe zur Gestaltung meiner
Ansichten die wichtigen Ausführungen der Bodenbesitzreformer, die
mir durch die Schriften Flürscheims und durch unseren Freund Dr.
Harmening näher gebracht worden sind.
* * * * *
Meine Aufgabe sehe ich nun hier ausschließlich darin: diejenigen
Punkte namhaft zu machen, an welchen die bisherigen Bestrebungen
der entschieden freisinnigen Parteien Anknüpfung darbieten zur
Weiterbildung des Parteiprogramms in der Richtung auf fruchtbare
soziale Reformen. Ich habe sodann in concreto zu zeigen, daß

gegenüber unbestreitbaren sozialen Übeln und Gefahren, die in den
gegenwärtigen Zuständen gegeben sind, wirkliche Reformen, welche
den Übeln an die Wurzel gehen, nicht bloß an ihren Symptomen
kurieren wollen, möglich sind ohne Umwälzung der Gesellschafts- und
Wirtschafts-Ordnung, vielmehr durch Maßnahmen, die auf dem Boden
der bestehenden Staatseinrichtungen von der Gesetzgebung -- wenn die
entscheidenden Faktoren nur wollen -- ohne weiteres eingeleitet und
schrittweise durchgeführt werden können. Denn es soll sich nicht
handeln dürfen um irgend welche Zukunftsideale, deren
Verwirklichung, wenn überhaupt denkbar, erst als Endergebnis eines
jahrhundertelangen Umbildungsprozesses möglich wäre, sondern um
bestimmte Anforderungen, die vernünftigerweise an die heutige
Gesetzgebung gestellt werden können. Für das soziale Programm einer
politischen Reformpartei dürfen nur Anforderungen in Betracht
kommen, deren Erfüllung, wie groß auch die Widerstände sein möchten,
die sie von Seiten bestimmter Interessengruppen zunächst zu
gewärtigen haben, doch nichts weiter zur Voraussetzung hat, als die
allmähliche Überwindung solcher Widerstände.
Es sind nun drei Punkte, auf welche ich in solchem Sinne hier
einzugehen gedenke: die Steuergesetzgebung, die mit dem
»Arbeiterschutz« zusammenhängenden Fragen, und Angelegenheiten
der Volksbildung. Ich beziehe mich dabei vorzugsweise auf den
Programmentwurf, welchen der verdiente Führer der Gewerkvereins-
und Genossenschaftsbestrebungen, Dr. Max Hirsch, schon auf dem
ersten Parteitag der Freisinnigen Volkspartei eingebracht hat, von
welchem Entwurf wohl anzunehmen ist, daß er auf dem nächsten
Parteitag in den Mittelpunkt der Diskussion treten werde.
Selbstverständlich aber habe ich dabei nicht minder im Auge das schon
um einige Schritte weiter entwickelte soziale Programm der Deutschen
Volkspartei, mit welcher in enge Fühlung zu treten der norddeutsche
Freisinn wohl als eine wichtige Angelegenheit zu betrachten haben
wird.
Für den heutigen Abend beschränke ich mich übrigens ganz auf den
zuerst angeführten Gegenstand, die Besteuerungsfragen -- zu welchem
ich das Folgende anzubringen habe.

Die Bekämpfung des Systems indirekter Steuern und die Forderung,
alle Staatsbedürfnisse anzuweisen auf direkte Steuern, gehören von
jeher zu den gemeinsamen Bestrebungen aller wirklich liberalen
Parteien in Deutschland. Natürlich ist auch für uns kein Wort mehr zu
verlieren über die Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit einer
Besteuerungsart, welche die Reichen verhältnismäßig ganz wenig
belastet und deshalb, damit überhaupt »etwas einkomme«, den weitaus
größten Teil der Staatslasten auf die Masse der arbeitenden
Bevölkerung abwälzen, dadurch aber die Lebenshaltung der breiten
Volksschichten entsprechend herabdrücken muß. Auch die
Nationalliberale Partei hat diese Ansicht geteilt, so lange sie noch in
anderem Sinn als heute eine »liberale« Partei war. -- Zuzugeben ist
natürlich auch, daß eine direkte Besteuerung des Einkommens
allerdings jene Ungerechtigkeit, als solche, um so vollkommener
beseitigen könnte, in je schärferer Progression dabei die größeren
Einkommen herangezogen würden. Nichtsdestoweniger finde ich in der
Forderung solcher progressiven Einkommensteuer immer noch ein
großes sozialpolitisches Defizit. Es ist nämlich für ein Steuersystem
nicht genug, daß es, rein steuerrechtlich betrachtet, korrekt oder gerecht
sei. In jedem Staatswesen, welches nicht geradewegs auf den
»Zukunftsstaat« hinführen will, oder auf die Katastrophen, welche
dieses Wort ankündigt, muß meines Erachtens der Steuergesetzgebung
noch eine andere, eine spezifisch soziale, staatserhaltende Funktion
zugewiesen werden -- nämlich der Regulator zu sein für das Verhältnis
zwischen Kapital und Arbeit und das Korrektiv zu liefern gegen
gewisse zerstörende Wirkungen der unkontrollierten
privat-kapitalistischen Produktionsweise.
Solche zerstörende Wirkungen -- deren Dasein und fortwährendes
Anwachsen heute keine Kunst der Rede mehr hinwegdisputieren wird
-- sind aber zu erblicken in der fortwährend zunehmenden
Tributpflichtigkeit aller Arbeit zugunsten des Besitzes und in der damit
Hand in Hand gehenden fortschreitenden Konzentration des Besitzes
auf eine immer kleiner werdende Minorität des Volkes. Unter diesem
Gesichtspunkt -- den ich sogleich näher entwickeln werde -- komme
ich dazu, dem Programm der demokratischen Parteien in bezug auf die
Besteuerungsfrage eine wesentlich anders lautende Forderung an die

Gesetzgebung zu empfehlen, die ich vorgreifend -- um gleich hier den
Zielpunkt der nachfolgenden Erörterungen erkennbar zu machen --
dahin formuliere:
Beseitigung der indirekten Steuern und auch Beseitigung aller
Besteuerung des Arbeitseinkommens. Anweisung aller Bedürfnisse von
Staat und Reich auf eine reine Vermögenssteuer, welche, nach oben
progressiv, alle größeren Vermögen besteuert annähernd mit dem
Prozentsatz des jeweiligen Boden-
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 167
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.