Gesammelte Abhandlungen III | Page 6

Ernst Abbe

übel einmal auf gewaltsamen Wegen sich vollziehen müssen.

Wie töricht und unheilvoll nun auch die Verbesserungsideen der
Sozialdemokratie befunden werden mögen -- keine Ideen haben zu
wollen ist ihr gegenüber noch viel törichter und unheilvoller. Läßt man
der Sozialdemokratie das Privilegium, die einzige politische Partei zu
sein, welche über die Verbesserung der sozialen Zustände noch Ideen
hat, so müssen die täglich größer werdenden Kreise derer, denen die
Übel, unter welchen sie tatsächlich leiden, zum Bewußtsein kommen,
mehr und mehr ihre Hoffnung auf die Verwirklichung dieser Ideen
setzen und mehr und mehr in dieser Partei die einzige Instanz erblicken,
von deren Aktion sie eine Hebung ihrer Lage überhaupt zu erwarten
haben. Und dann gehört die Zukunft dem »Zukunftsstaat«! Denn daß
die Polizeiknüppel schlechte geistige Waffen sind, hat zum Überfluß
auch der Versuch gezeigt. Eine Partei aber, welche zwar eine
»Volkspartei« sich nennt, jedoch bei der großen Majorität des
»Volkes« mehr und mehr das Vertrauen verlöre, daß sie den Willen
und die Fähigkeit habe, gerechten Beschwerden auf ihren Wegen
Abhilfe zu schaffen, würde bald auch alle Kraft zu nachhaltiger
Vertretung ihrer rein politischen Ziele verloren haben. Diese Kraft kann
sie nur schöpfen aus engem Zusammenhang ihrer Bestrebungen mit
denjenigen Gedanken, unter welchen in den breiten Schichten des
Volkes die Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten jeweils
steht.
So muß also unsere Diskussion unter die Fragestellung kommen:
welche soziale Forderungen hat eine »freisinnige Volkspartei« in ihr
Programm aufzunehmen, damit sie ihren Namen mit Ehren führen
könne?
Ich habe mich erboten, über diese Frage das einleitende Referat zu
übernehmen, welches zunächst in unserem Kreise Unterlagen für eine
Verständigung über das einzelne zu schaffen suchen soll.
Betreffs meiner Legitimation hierzu kann ich mich allerdings nicht
berufen auf ein gründliches, systematisches Studium der
volkswirtschaftlichen und sozialen Theorien und selbst nicht einmal
darauf, daß ich etwa in der öffentlichen Diskussion dieser
Angelegenheiten praktisch mich schon betätigt hätte. Zum einen wie

zum anderen haben meine sonstigen Pflichten mir Zeit und Kraft nicht
übrig gelassen. Diesem Mangel gegenüber kann ich mich jedoch auf
etwas berufen, was in der Art, wie ich es habe, nicht viele haben
können: eine eigene lebendige Erfahrung. Denn seit ungefähr 25 Jahren
bin ich mitten hinein gestellt in das Wirtschaftstreiben, auf dessen
Boden die sozialen Vorgänge und Erscheinungen sich abspielen. Und
zwar haben die Umstände es mit sich gebracht -- was ich als Student
mir nicht hätte träumen lassen -- daß ich selbst »Unternehmer«
geworden bin, nämlich einer, der die gewerbliche Tätigkeit von vielen
andern Personen, zuerst von 20, dann von 100 und zuletzt von 500, in
den Formen gemeinsamer fabrikatorischer Arbeit mit zu organisieren
und zu leiten hatte -- was ja wohl unter allen Umständen ein nützlicher
und anständiger Beruf ist. Da aber diese Tätigkeit Erfolg hatte, so bin
ich dabei mit der Zeit von selbst auch Kapitalist geworden, d. h. einer
von denen, welche angesammelten Ertrag vorangegangener Arbeit als
Produktionsmittel für weitere Arbeit vorzuhalten haben. Ich habe also
Gelegenheit gehabt, die Erscheinungen des heutigen Wirtschaftslebens
im Bereich eines einzelnen Industriezweiges, aus allernächster Nähe
anzusehen, und dadurch zugleich einen Schlüssel gewonnen für das
Verständnis entsprechender Erscheinungen auf Gebieten außerhalb
meines eigenen Wirkungskreises. Gemäß den Pflichten, welche meine
Stellung mir auferlegte, mußte ich nun diese Erscheinungen stets
betrachten vom Standpunkt des Unternehmers und des Kapitalisten.
Gleichzeitig aber habe ich sie auch immer betrachten müssen mit den
Augen des Arbeitersohnes, dem nicht unter der Hand Unternehmer-
und Kapitalistenaugen wachsen wollten. Ich habe also diese Vorgänge
gleichzeitig von ganz entgegengesetzten Seiten her ansehen können:
einerseits unter dem Gesichtswinkel des Unternehmer- und
Kapitalisteninteresses, andererseits aber auch vom Standpunkt des
Interesses der Arbeiter -- und dann habe ich, unabhängig von jeder
Beeinflussung durch äußere Rücksichten, aus beiden ein Fazit mir
ziehen können unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses und
des Gemeinwohls.
Auf diesem Wege bin ich im Laufe der Jahre zu ganz bestimmten
Ansichten gelangt über Bedeutung und Wirkung gewisser
Einrichtungen unserer gegenwärtigen Wirtschaftsordnung und

Staatsgesetzgebung und auch über die Ursachen, aus welchen einzelne
als besonders gefährlich zu betrachtende Wirkungen hervorgehen.
Diese Ansichten unterscheiden sich allerdings in manchen Stücken
stark von dem, was zu denken und zu sagen in meinen Kreisen bei den
meisten für wohlanständig gilt. Indes trage ich kein Bedenken, diese
Ansichten, nachdem ich sie seit Jahren zu einer Richtschnur des
eigenen Handelns gemacht, aus dem jetzt gegebenen Anlaß auch
öffentlich auszusprechen und geeignetenfalls zu vertreten. Ihnen
entnehme ich also die Grundlagen meines Referates über die vorhin
gestellte Frage -- indem ich es darauf ankommen lasse, ob das eine oder
das andere darin etwa für geeignet befunden werden möchte, als
Ausgangspunkt von neuen Bestrebungen de lege ferenda in einer
freisinnigen Volkspartei zu dienen. Es wäre aber nicht ehrlich, wenn
ich dabei verschweigen wollte, daß die erste Anregung zu eigener
Stellungnahme gegenüber den sozialen Angelegenheiten sich mir
ergeben hat aus gelegentlichem persönlichen Verkehr mit einem der
bedeutendsten und hochachtbarsten Führer der deutschen
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