Gesammelte Abhandlungen III | Page 5

Ernst Abbe
Rundschau, Jahrg.
1905/06, Bd. II), WANDERSLEB (Naturwissenschaftl. Rundschau
1905, Nr. 14).]

Inhalt.
Seite
I. Welche sozialen Forderungen soll die Freisinnige Volkspartei in ihr
Programm aufnehmen? (1894) 1-59 A. Steuersystem 1 B.
Arbeiterschutz 26 Anhang (Aus »Entwurf zu einem Statut der Carl
Zeiss-Stiftung«.) 56
II. Gedächtnisrede zur Feier des 50jährigen Bestehens der Optischen
Werkstätte (1896) 60-101

III. Über Gewinnbeteiligung der Arbeiter in der Großindustrie (1897).
102-118
IV. Über die Grundlagen der Lohnregelung in der Optischen
Werkstätte (1897) 119-156
V. Zur Frage der Sonderbesteuerung des Konsumvereins (1898)
157-169
VI. Die rechtswidrige Beschränkung der Versammlungsfreiheit im
Großherzogtum Sachsen (1900) 170-202
VII. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Verkürzung des
industriellen Arbeitstages (1901) 203-249
VIII. Über die Aufgaben des Arbeiterausschusses (1902) 250-261
IX. Statut der Carl Zeiss-Stiftung zu Jena (Text der Neuredaktion von
906 mit den Varianten der Ausgabe von 1896) nebst Ergänzungsstatut
(1900) 262-329
X. Motive und Erläuterungen zum Entwurf eines Statuts der Carl
Zeiss-Stiftung (1895) 330-372
Xa. Motive und Erläuterungen. Nachtrag zum zweiten Entwurf, Titel V
(1896) 373-387
Xb. Die Verfassung der Carl Zeiss-Stiftung. Erläuterungen zu Titel I
und II des Stiftungsstatuts (1900) 388-402

I.
Welche soziale Forderungen soll die Freisinnige Volkspartei in ihr
Programm aufnehmen?
Zwei Vorträge, gehalten im Freisinnigen Verein zu Jena am 7. und 21.
März 1894.

A. Steuersystem.
Meine Herren!
Unser Verein hat, wie Sie wissen, beschlossen, an der Ausgestaltung
des Parteiprogramms der Freisinnigen Volkspartei tätig sich zu
beteiligen. Wir wollen darauf hinzuwirken versuchen, daß auf dem
Parteitag, der in diesem Jahre bevorsteht, der jetzt reinlich abgesonderte
demokratische Flügel der früheren Deutschfreisinnigen Partei eine
klare und entschiedene Stellung nehme zu den wirtschaftlichen und
sozialen Angelegenheiten, welche das Volk bewegen. Und zwar wollen
wir darauf hinzuwirken versuchen, daß diese Stellungnahme eine
andere werde, als sie werden könnte gemäß den sozialpolitischen
Anschauungen, die in der ehemaligen Deutschfreisinnigen Partei und in
ihrer Vorgängerin, der Fortschrittspartei, die herrschenden immer
geblieben sind.
Unentwegt wollen wir dabei zu denen stehen, deren politische Arbeit
darauf gerichtet ist, dem Deutschen Volk das größere Maß von
bürgerlicher Freiheit und Selbstbestimmung noch zu erringen, welches
den nordischen und anglo-sächsischen Zweigen des germanischen
Stammes eine glücklichere Geschichte schon vor Jahrhunderten hat
zuteil werden lassen. Und wir wissen Dank den Männern, die in der
schweren Zeit der letzten 16 Jahre die Fahne des politischen
Fortschrittes noch hochgehalten haben und nicht entmutigt durch die
Übermacht der Gegner und durch die Teilnahmlosigkeit des
Bürgertums, in dieser Zeit, wenn sie auch nur weniges fördern konnten,
doch noch manches gerettet haben, was ohne ihre energische und
aufopferungsvolle Arbeit jetzt gleichfalls verloren wäre. Nach wie vor
halten wir dabei auch fest an der Überzeugung, daß nur gefestigte
Institutionen bürgerlicher Freiheit, die allen Kreisen des Volkes tätige
Teilnahme an seinen öffentlichen Angelegenheiten gewährleisten, den
Hort bilden können für gesunde wirtschaftliche und soziale Zustände.
Dieses alles kann uns aber nicht abhalten, auch der weiteren
Überzeugung Ausdruck zu geben, die in unserem Kreise längst
feststeht: daß die Freisinnige Volkspartei, wenn sie mit der Verfolgung
jener politischen Ziele ein lebenskräftiger Faktor für die

Fortentwickelung unseres öffentlichen Lebens bleiben will, nunmehr
andere Wege beschreiten müsse, als in bezug auf mehrere
Angelegenheiten des Volksinteresses von ihrer Vorgängerin
eingeschlagen worden sind.
Jede politische Partei sehen wir vor die Alternative gestellt: entweder
sie leugnet, daß in unseren wirtschaftlichen Einrichtungen und sozialen
Zuständen ernstliche Übel überhaupt vorhanden seien, sie behauptet,
alles sei der Hauptsache nach in bester Ordnung und deshalb liege zu
Verbesserungen und Reformen Anlaß gar nicht vor; oder sie erkennt
solche Übel als wirklich vorhanden an -- damit aber auch die
Verpflichtung, positiv mitzuarbeiten zu ihrer Beseitigung auf dem Weg
gesetzlicher Reform, unbekümmert darum, von welcher Seite dabei
Bundesgenossen zu finden man hoffen oder fürchten mag.
Der erstere von beiden Standpunkten ist für irgend eine liberale Partei
nicht mehr denkbar, am wenigsten aber für eine Partei, welche die
soziale Befreiung der arbeitenden Klassen schon als Aufgabe
hingestellt, damit also ausgesprochen hat, daß diese Befreiung zurzeit
noch nicht vollzogen sei. Ist aber die Existenz allgemeiner
wirtschaftlicher und sozialer Übel im Volksleben einmal anerkannt, so
ist damit auch anerkannt, daß es sich um Übel handelt, die
notwendigerweise neun Zehntel des ganzen Volkes -- sei es auch den
einzelnen zum Teil noch unbewußt -- berühren müssen. Übeln solcher
Art gegenüber das alsbaldige tätige Eingreifen mit wirklichen
konkreten Reformen abzulehnen unter der platonischen Vertröstung:
der Fortschritt in der Richtung bürgerlicher und wirtschaftlicher
Freiheit werde sie mit der Zeit von selbst überwinden, hieße einfach,
jedem erkennbar machen, daß man diese Übel entweder nicht
beseitigen wolle, oder daß man sie auf dem Wege gesetzlicher
Reformen nicht beseitigen könne. Und dann wäre denen recht gegeben,
welche behaupten, daß diese Übel auf dem Boden der jetzigen Staats-
und Gesellschaftsordnung überhaupt nicht zu überwinden seien,
sondern nur durch völlige Umwälzung dieser Ordnung und welche
daraufhin ganz konsequenterweise sagen: wenn solche Umwälzung auf
friedlichen Wegen nicht zu erreichen sein sollte, so wird sie wohl oder
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