Götzen-Dämmerung | Page 4

Friedrich Wilhelm Nietzsche
ernst nehmen machte: was
geschah da eigentlich? -
6.
Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man
weiss, dass man Misstrauen mit ihr erregt, dass sie wenig überredet.

Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt: die
Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann
nur Nothwehr sein, in den Händen Solcher, die keine andren Waffen
mehr haben. Man muss sein Recht zu erzwingen haben: eher macht
man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker;
Reinecke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch? -
7.
- Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte? von
Pöbel-Ressentiment? geniesst er als Unterdrückter seine eigne Ferocität
in den Messerstichen des Syllogismus? Rächt er sich an den
Vornehmen, die er fascinirt? - Man hat, als Dialektiker, ein
schonungsloses Werkzeug in der Hand; man kann mit ihm den
Tyrannen machen; man stellt bloss, indem man siegt. Der Dialektiker
überlässt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht
wüthend, er macht zugleich hülflos. Der Dialektiker depotenzirt den
Intellekt seines Gegners. - Wie? ist Dialektik nur eine Form der Rache
bei Sokrates?
8.
Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstossen konnte: es
bleibt um so mehr zu erklären, dass er fascinirte. - Dass er eine neue
Art Agon entdeckte, dass er der erste Fechtmeister davon für die
vornehmen Kreise Athen's war, ist das Eine. Er fascinirte, indem er an
den agonalen Trieb der Hellenen rührte, - er brachte eine Variante in
den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates
war auch ein grosser Erotiker.
9.
Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah hinter seine vornehmen
Athener; er begriff, dass sein Fall, seine Idiosynkrasie von Fall bereits
kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenerescenz bereitete
sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu Ende. - Und
Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöthig hatte, - sein Mittel, seine
Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung... Überall waren

die Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom
Excess: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. "Die
Triebe wollen den Tyrannen machen; man muss einen Gegentyrannen
erfinden, der stärker ist"... Als jener Physiognomiker dem Sokrates
enthüllt hatte, wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, liess
der grosse Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm
giebt. "Dies ist wahr, sagte er, aber ich wurde über alle Herr." Wie
wurde Sokrates über sich Herr? - Sein Fall war im Grunde nur der
extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals
die allgemeine Noth zu werden anfieng: dass Niemand mehr über sich
Herr war, dass die Instinkte sich gegen einander wendeten. Er fascinirte
als dieser extreme Fall - seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach
ihn für jedes Auge aus: er fascinirte, wie sich von selbst versteht, noch
stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der Kur dieses Falls. -
10.
Wenn man nöthig hat, aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen,
wie Sokrates es that, so muss die Gefahr nicht klein sein, dass etwas
Andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals errathen
als Retterin, es stand weder Sokrates, noch seinen "Kranken" frei,
vernünftig zu sein, - es war de rigueur, es war ihr letztes Mittel. Der
Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die
Vernünftigkeit wirft, verräth eine Nothlage: man war in Gefahr, man
hatte nur Eine Wahl: entweder zu Grunde zu gehn oder -
absurd-vernünftig zu sein... Der Moralismus der griechischen
Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt; ebenso ihre
Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heisst bloss: man
muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen
Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen - das Tageslicht
der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes
Nachgeben an die Instinkte, an's Unbewusste führt hinab...
11.
Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates fascinirte: er schien ein
Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nöthig, noch den Irrthum aufzuzeigen,
der in seinem Glauben an die "Vernünftigkeit um jeden Preis" lag? - Es

ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit
schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg
machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft: was sie als
Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der
décadence - sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht
weg. Sokrates war ein Missverständniss; die ganze Besserungs-Moral,
auch die christliche, war ein Missverständniss... Das grellste Tageslicht,
die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig,
bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur
eine Krankheit, eine andre Krankheit - und durchaus kein Rückweg zur
"Tugend", zur "Gesundheit", zum Glück... Die Instinkte bekämpfen
müssen - das ist die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt,
ist Glück gleich Instinkt. -
12.
- Hat er das selbst noch begriffen,
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 35
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.