Götzen-Dämmerung | Page 3

Friedrich Wilhelm Nietzsche
Recht. - Und
wer heute am besten lacht, lacht auch zuletzt.
44.
Formel meines Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie ein Ziel...

Das Problem des Sokrates.
1.
Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurtheilt:
es taugt nichts... Immer und überall hat man aus ihrem Munde
denselben Klang gehört, - einen Klang voll Zweifel, voll Schwermuth,
voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. Selbst
Sokrates sagte, als er starb: "leben - das heisst lange krank sein: ich bin
dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig." Selbst Sokrates hatte es
satt. - Was beweist das? Worauf weist das? - Ehemals hätte man gesagt
(- oh man hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran!):
"Hier muss jedenfalls Etwas wahr sein! Der consensus sapientium
beweist die Wahrheit." - Werden wir heute noch so reden? Dürfen wir
das? "Hier muss jedenfalls Etwas krank sein" - geben wir zur Antwort:
diese Weisesten aller Zeiten, man sollte sie sich erst aus der Nähe
ansehn! Waren sie vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest?
spät? wackelig? décadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden
als Rabe, den ein kleiner Geruch von Aas begeistert?...
2.
Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen
Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo
ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht:

ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge
der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch
("Geburt der Tragödie" 1872), jener consensus sapientium - das begriff
ich immer besser - beweist am wenigsten, dass sie Recht mit dem
hatten, worüber sie übereinstimmten: er beweist vielmehr, dass sie
selbst, diese Weisesten, irgend worin physiologisch übereinstimmten,
um auf gleiche Weise negativ zum Leben zu stehn, - stehn zu müssen.
Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können zuletzt
niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur
als Symptome in Betracht, - an sich sind solche Urtheile Dummheiten.
Man muss durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch
machen, diese erstaunliche finesse zu fassen, dass der Werth des
Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht,
weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von
einem Todten nicht, aus einem andren Grunde. - Von Seiten eines
Philosophen im Werth des Lebens ein Problem sehn bleibt dergestalt
sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine
Unweisheit. - Wie? und alle diese grossen Weisen - sie wären nicht nur
décadents, sie wären nicht einmal weise gewesen? - Aber ich komme
auf das Problem des Sokrates zurück.
3.
Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk: Sokrates
war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich er war.
Aber Hässlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe eine
Widerlegung. War Sokrates überhaupt ein Grieche? Die Hässlichkeit ist
häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten, durch Kreuzung
gehemmten Entwicklung. Im andren Falle erscheint sie als
niedergehende Entwicklung.
Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der
typische Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in
animo. Aber der Verbrecher ist ein décadent. War Sokrates ein
typischer Verbrecher? - Zum Mindesten widerspräche dem jenes
berühmte Physiognomen-Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates
so anstössig klang. Ein Ausländer, der sich auf Gesichter verstand,

sagte, als er durch Athen kam, dem Sokrates in's Gesicht, er sei ein
monstrum, - er berge alle schlimmen Laster und Begierden in sich. Und
Sokrates antwortete bloss: "Sie kennen mich, mein Herr!" -
4.
Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne Wüstheit
und Anarchie in den Instinkten: eben dahin deutet auch die
Superfötation des Logischen und jene Rhachitiker-Bosheit, die ihn
auszeichnet. Vergessen wir auch jene Gehörs-Hallucinationen nicht, die,
als "Dämonion des Sokrates", in's Religiöse interpretirt worden sind.
Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm, Alles ist zugleich
versteckt, hintergedanklich, unterirdisch. - Ich suche zu begreifen, aus
welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung von Vernunft =
Tugend = Glück stammt: jene bizarrste Gleichsetzung, die es giebt und
die in Sonderheit alle Instinkte des älteren Hellenen gegen sich hat.
5.
Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der
Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor Allem wird damit ein
vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik
obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die
dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie
stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch misstraute man
allein solchen Präsentiren seiner Gründe. Honnette Dinge tragen, wie
honnette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist
unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen
muss, ist wenig werth. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte
gehört, wo man nicht "begründet", sondern befiehlt, ist der Dialektiker
eine Art Hanswurst: man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. -
Sokrates war der Hanswurst, der sich
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