Ein Mann | Page 5

Joachim Nettelbeck
wagte es nicht, sich
umzudrehen, ich konnte an ihm nicht vorbeikommen. Dabei hörte er
nicht auf, in seiner Seelenangst aus vollem Halse zu schreien. Auf der
Straße gab es einen Zusammenlauf und bald auch Hilfe. Denn der alte
Glöckner mit seinem Sohne und mehreren anderen kamen auf den
Turm und zogen meinen Freund David mit umgeworfenen Leinen
rücklings nach dem Gerüste und so vollends in die Luke hinein. Ich
aber folgte, wie ein armer Sünder, zitternd und bebend nach.
Des nächsten Tages kam mein Vater wieder nach Hause, und da gab es
denn, wie zu erwarten war, rechtschaffene, aber verdiente Prügel.
Damit aber nicht genug, meinte auch Herr Schütz, mein Lehrer, es
müsse hier, der übrigen Schulkameradschaft wegen, noch ein
anderweitiges Beispiel zu Nutz und Lehre statuiert werden, und bat
sich's bei meinem Vater aus, gleichfalls noch Gericht über mich halten
zu dürfen. Das ward ihm gern bewilligt. Meine Strafe bestand in einem
dreitägigen Quartiere in dem dunklen Karzer auf dem Schulhofe. Hier
ward ich nachmittags, sobald die Schulzeit abgelaufen war, eingesperrt
und immer erst morgens um acht Uhr, wo die Schule wieder anging,
herausgelassen. Nur mittags durfte ich nach Hause gehen, um zu essen;
aber schon in der nächsten Stunde auf meiner Schulbank mich
einfinden und um vier Uhr meine traurige Wanderung in die Finsternis
wieder antreten.
Nächst der Unbequemlichkeit einer einzigen täglichen Mahlzeit bei
einem (Gott weiß es) gesegneten Appetite, war's meine größte Qual,
daß ich von den andern Schulbuben über mein Abenteuer noch
ausgelacht ward. Niemand hatte Mitleid mit meinem Unstern;
ausgenommen ein einziges gutherziges Mädchen, die älteste Tochter
des Kaufmanns, Herrn Seeland. Wenn ich mich recht entsinne, nannte
man sie Dörtchen. Dörtchen also steckte mir den letzten Abend, mit
Tränen in den Augen, ihre Semmel zu; konnte es aber nicht so heimlich
abtun, daß es nicht von den anderen wäre gesehen und verraten worden.
Die Semmel ward mir vom Lehrer wieder abgenommen und konfisziert.
Ich weinte; sie weinte; Herr Schütz selbst konnte sich dessen nicht

erwehren. Ich bekam meine Semmel zurück: aber bloß -- wie er
hinzusetzte -- um das gute Kind zu beruhigen. -- Ich habe nachher, im
Jahre 1782 (also nach Verlauf von vierunddreißig Jahren!) die Freude
gehabt, dieses nämliche Dörtchen Seeland in Memel wieder anzutreffen.
Ihre Eltern waren in ihrem Wohlstande zurückgekommen, den sie
damals durch eine Auswanderung nach Rußland zu verbessern hofften.
Ich hatte jene Semmel noch nicht vergessen; und es hat mir wohlgetan,
sie einigermaßen vergelten zu können.
* * * * *
Endlich, da ich etwa elf Jahre alt sein mochte, sollte es, zu meiner
unsäglichen Freude, Ernst mit meiner künftigen Bestimmung werden.
Meines Vaters Bruder nahm mich auf sein Schiff, die Susanna, als
Kajüten-Wächter, und so ging meine erste Ausflucht nach Amsterdam.
Hier sah ich nun eine Menge großer Schiffe auf dem Y vor Anker
liegen, die nach Ost- und West-Indien gehen sollten. Täglich ward auf
ihnen mit Trommeln, Pauken und Trompeten musiziert, oder mit
Kanonen geschossen. Das machte mir allmählich das Herz groß! Ich
dachte: Wer doch auch auf so einem Schiffe fahren könnte! -- und das
ging mir nur um so viel mehr im Kopfe herum, als es damals unter all
unsern Schiffsleuten, wie ich oft gehört hatte, für einen Glaubensartikel
galt: daß, wer nicht von Holland aus auf dergleichen Schiffen gefahren
wäre, auch für keinen rechtschaffenen Seemann gelten könnte. Gerade
das aber machte ja mein ganzes Sinnen und Denken aus! -- Wirklich
findet man bei keiner Nation eine größere Ordnung auf den Schiffen als
bei den Holländern.
Wovon mir das Herz voll war, ging mir auch alle Augenblicke der
Mund über. Ich gestand meinem Oheim, wie gern ich am Bord eines
solchen ansehnlichen Ostindien-Fahrers sein und die Reise mitmachen
möchte. Er gab mir immer die einzige Antwort, die darauf paßte: Daß
ich nicht klug im Kopf sein müßte. Endlich aber ward dieser Hang in
mir zu mächtig, als daß ich ihm länger widerstehen konnte. In einer
Nacht, zwei Tage vor unserer Abreise, schlüpfte ich heimlich in unsere
angehängte Jolle -- ganz wie ich ging und stand und ohne das geringste
von meinen Kleidungsstücken mit mir zu nehmen. Man sollte nämlich

nicht glauben, daß ich desertiert, sondern daß ich ertrunken sei, und
wollte so verhindern, daß mir nicht weiter auf den anderen Schiffen
nachgespürt würde. Unter diesen aber hatte ich mir eins aufs Korn
gefaßt, von welchem mir bekannt geworden war, daß es am anderen
nächsten Morgen nach Ostindien unter Segel gehen sollte. Das letztere
zwar war richtig, aber über seine Bestimmung befand ich mich im
Irrtum, denn es war zum Sklavenhandel an der Küste von Guinea
bestimmt.
Still und vorsichtig kam ich mit meiner Jolle an der Seite dieses
Schiffes an, ohne von irgend jemand bemerkt zu werden. Ebenso
ungesehen stieg ich an Bord, indem ich mein kleines Fahrzeug mit dem
Fuße zurückstieß und es treibend seinem Schicksale
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