Ecce Homo | Page 5

Friedrich Wilhelm Nietzsche
guten Willen zu beklagen, der keinen kleinen Unfug in meinem Leben angerichtet hat. Meine Erfahrungen geben mir ein Anrecht auf Misstrauen überhaupt hinsichtlich der sogenannten "selbstlosen" Triebe, der gesammten zu Rath und That bereiten "N?chstenliebe". Sie gilt mir an sich als Schw?che, als Einzelfall der Widerstands-Unf?higkeit gegen Reize, - das Mitleiden heisst nur bei décadents eine Tugend. Ich werfe den Mitleidigen vor, dass ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor Distanzen leicht abhanden kommt, dass Mitleiden im Handumdrehn nach P?bel riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ?hnlich sieht, - dass mitleidige H?nde unter Umst?nden geradezu zerst?rerisch in ein grosses Schicksal in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf schwere Schuld hineingreifen k?nnen. Die überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen Tugenden: ich habe als "Versuchung Zarathustra's" einen Fall gedichtet, wo ein grosser Nothschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von sich abspenstig machen will. Hier Herr bleiben, hier die H?he seiner Aufgabe rein halten von den viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche in den sogenannten selbstlosen Handlungen th?tig sind, das ist die Probe, die letzte Probe vielleicht, die ein Zarathustra abzulegen hat - sein eigentlicher Beweis von Kraft...
5.
Auch noch in einem anderen Punkte bin ich bloss mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach einem allzufrühen Tode. Gleich jedem, der nie unter seines Gleichen lebte und dem der Begriff "Vergeltung" so unzug?nglich ist wie etwa der Begriff "gleiche Rechte", verbiete ich mir in F?llen, wo eine kleine oder sehr grosse Thorheit an mir begangen wird, jede Gegenmaassregel, jede Schutzmaassregel, - wie billig, auch jede Vertheidigung, jede "Rechtfertigung". Meine Art Vergeltung besteht darin, der Dummheit so schnell wie m?glich eine Klugheit nachzuschicken: so holt man sie vielleicht noch ein. Im Gleichniss geredet: ich schicke einen Topf mit Confitüren, um eine sauere Geschichte loszuwerden... Man hat nur Etwas an mir schlimm zu machen, ich "vergelte" es, dessen sei man sicher: ich finde über Kurzem eine Gelegenheit, dem "Misseth?ter" meinen Dank auszudrücken (mitunter sogar für die Missethat) - oder ihn um Etwas zu bitten, was verbindlicher sein kann als Etwas geben... Auch scheint es mir, dass das gr?bste Wort, der gr?bste Brief noch gutartiger, noch honnetter sind als Schweigen. Solchen, die schweigen, fehlt es fast immer an Feinheit und H?flichkeit des Herzens; Schweigen ist ein Einwand, Hinunterschlucken macht nothwendig einen schlechten Charakter, - es verdirbt selbst den Magen. Alle Schweiger sind dyspeptisch. - Man sieht, ich m?chte die Grobheit nicht untersch?tzt wissen, sie ist bei weitem die humanste Form des Widerspruchs und, inmitten der modernen Verz?rtelung, eine unsrer ersten Tugenden. - Wenn man reich genug dazu ist, ist es selbst ein Glück, Unrecht zu haben. Ein Gott, der auf die Erde k?me, dürfte gar nichts Andres thun als Unrecht, - nicht die Strafe, sondern die Schuld auf sich zu nehmen w?re erst g?ttlich.
6.
Die Freiheit vom Ressentiment, die Aufkl?rung über das Ressentiment - wer weiss, wie sehr ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank verpflichtet bin! Das Problem ist nicht gerade einfach: man muss es aus der Kraft heraus und aus der Schw?che heraus erlebt haben. Wenn irgend Etwas überhaupt gegen Kranksein, gegen Schwachsein geltend gemacht werden muss, so ist es, dass in ihm der eigentliche Heilinstinkt, das ist der Wehr- und Waffen-Instinkt im Menschen mürbe wird. Man weiss von Nichts loszukommen, man weiss mit Nichts fertig zu werden, man weiss Nichts zurückzustossen, - Alles verletzt. Mensch und Ding kommen zudringlich nahe, die Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde. Kranksein ist eine Art Ressentiment selbst. - Hiergegen hat der Kranke nur Ein grosses Heilmittel - ich nenne es den russischen Fatalismus, jenen Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat, dem der Feldzug zu hart wird, zuletzt in den Schnee legt. Nichts überhaupt mehr annehmen, an sich nehmen, in sich hineinnehmen, - überhaupt nicht mehr reagiren... Die grosse Vernunft dieses Fatalismus, der nicht immer nur der Muth zum Tode ist, als lebenerhaltend unter den lebensgef?hrlichsten Umst?nden, ist die Herabsetzung des Stoffwechsels, dessen Verlangsamung, eine Art Wille zum Winterschlaf. Ein paar Schritte weiter in dieser Logik, und man hat den Fakir, der wochenlang in einem Grabe schl?ft... Weil man zu schnell sich verbrauchen würde, wenn man überhaupt reagirte, reagirt man gar nicht mehr: dies ist die Logik. Und mit Nichts brennt man rascher ab, als mit den Ressentiments-Affekten. Der ?rger, die krankhafte Verletzlichkeit, die Ohnmacht zur Rache, die Lust, der Durst nach der Rache, das Giftmischen in jedem Sinne - das ist für Ersch?pfte sicherlich die nachtheiligste Art zu reagiren: ein rapider Verbrauch von Nervenkraft, eine krankhafte Steigerung sch?dlicher Ausleerungen, zum Beispiel der Galle in den Magen, ist damit bedingt. Das Ressentiment ist das Verbotene an sich für den Kranken - sein B?ses: leider auch sein natürlichster Hang. - Das begriff jener tiefe Physiolog Buddha. Seine "Religion",
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