Ecce Homo | Page 3

Friedrich Wilhelm Nietzsche
in St. Moritz und den n?chsten Winter, den sonnen?rmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: "Der Wanderer und sein Schatten" entstand w?hrenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten... Im Winter darauf, meinem ersten Genueser Winter, brachte jene Versüssung und Vergeistigung, die mit einer extremen Armuth an Blut und Muskel beinahe bedingt ist, die "Morgenr?the" hervor. Die vollkommne Helle und Heiterkeit, selbst Exuberanz des Geistes, welche das genannte Werk wiederspiegelt, vertr?gt sich bei mir nicht nur mit der tiefsten physiologischen Schw?che, sondern sogar mit einem Excess von Schmerzgefühl. Mitten in Martern, die ein ununterbrochner dreit?giger Gehirn-Schmerz sammt mühseligem Schleimerbrechen mit sich bringt, - besass ich eine Dialektiker-Klarheit par excellence und dachte Dinge sehr kaltblütig durch, zu denen ich in gesünderen Verh?ltnissen nicht Kletterer, nicht raffinirt, nicht kalt genug bin. Meine Leser wissen vielleicht, in wie fern ich Dialektik als Décadence-Symptom betrachte, zum Beispiel im allerberühmtesten Fall: im Fall des Sokrates. - Alle krankhaften St?rungen des Intellekts, selbst jene Halbbet?ubung, die das Fieber im Gefolge hat, sind mir bis heute g?nzlich fremde Dinge geblieben, über deren Natur und H?ufigkeit ich mich erst auf gelehrtem Wege zu unterrichten hatte. Mein Blut l?uft langsam. Niemand hat je an mir Fieber constatiren k?nnen. Ein Arzt, der mich l?nger als Nervenkranken behandelte, sagte schliesslich: "nein! an Ihren Nerven liegt's nicht, ich selber bin nur nerv?s." Schlechterdings unnachweisbar irgend eine lokale Entartung; kein organisch bedingtes Magenleiden, wie sehr auch immer, als Folge der Gesammtersch?pfung, die tiefste Schw?che des gastrischen Systems. Auch das Augenleiden, dem Blindwerden zeitweilig sich gef?hrlich ann?hernd, nur Folge, nicht urs?chlich: so dass mit jeder Zunahme an Lebenskraft auch die Sehkraft wieder zugenommen hat. - Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung, - sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik einer Art décadence. Brauche ich, nach alledem, zu sagen, dass ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorw?rts und rückw?rts buchstabirt. Selbst jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des "Um-die-Ecke-sehns" und was sonst mir eignet, ward damals erst erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der Alles sich bei mir verfeinerte, die Beobachtung selbst wie alle Organe der Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts - das war meine l?ngste übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister. Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine "Umwerthung der Werthe" überhaupt m?glich ist.
2.
Abgerechnet n?mlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, unter Anderem, dass ich instinktiv gegen die schlimmen Zust?nde immer die rechten Mittel w?hlte: w?hrend der décadent an sich immer die ihm nachtheiligen Mittel w?hlt. Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Specialit?t war ich décadent. Jene Energie zur absoluten Vereinsamung und Herausl?sung aus gewohnten Verh?ltnissen, der Zwang gegen mich, mich nicht mehr besorgen, bedienen, be?rzteln zu lassen - das verr?th die unbedingte Instinkt-Gewissheit darüber, was damals vor Allem noth that. Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu - jeder Physiologe wird das zugeben - ist, dass man im Grunde gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben sein. So in der That erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit: ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nicht leicht schmecken k?nnten, - ich machte aus meinem Willen zur; Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie... Denn man gebe Acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalit?t waren es, wo ich aufh?rte, Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armuth und Entmuthigung... Und woran erkennt man im Grunde die Wohlgerathenheit! Dass ein wohlgerathner Mensch unsern Sinnen wohlthut: dass er aus einem Holze geschnitzt ist, das hart, zart und wohlriechend zugleich ist. Ihm schmeckt nur, was ihm zutr?glich ist; sein Gefallen, seine Lust h?rt auf, wo das Maass des Zutr?glichen überschritten wird. Er err?th Heilmittel gegen Sch?digungen, er nützt schlimme Zuf?lle zu seinem Vortheil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn st?rker. Er sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, h?rt, erlebt, seine Summe: er ist ein ausw?hlendes Princip, er l?sst Viel durchfallen. Er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er w?hlt, indem er zul?sst, indem er vertraut. Er reagirt auf alle Art Reize langsam, mit jener Langsamkeit, die eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz ihm angezüchtet haben, - er prüft den Reiz,
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