Die zärtlichen Schwestern | Page 6

Christian Fürchtegott Gellert
haben als Ihr? Ihr habt
ja immer gesagt, daß er ein vernünftiger und artiger Mann wäre.
Lottchen. Das Beiwort artig hätte nicht eben notwendig zu unserer
Streitfrage gehört; aber vielleicht gehört diese Vorstellung sonst in die

Reihe deiner Empfindungen. Herr Damis ist ganz gewiß verständiger
als ich; aber er ist auch ein Mensch wie ich; und der beste Verstand hat
seine schwache Seite.
Julchen. Lottchen, also seid Ihr hiehergekommen, um mir zu
demonstrieren, daß Herr Damis ein Mensch und kein Engel am
Verstande ist? Das glaube ich. Aber, mein liebes Lottchen, Eure
Spöttereien sind mir sehr erträglich. Ich könnte Euch leicht die Antwort
zurückgeben, daß Euer Herr Siegmund auch unter die armen
Sterblichen gehörte; aber ich will es nicht tun. Ihr würdet nur denken,
daß ich aus Eigensinn den Herrn Damis verteidigen wollte. Nein, er
soll nicht den größten Verstand haben; er soll nicht so galant, nicht so
liebenswürdig sein als Euer Siegmund. So habe ich noch eine Ursache
mehr, meine Freiheit zu behaupten und ihn nicht zu lieben.
Lottchen. Mein liebes Kind, du kömmst recht in die Hitze. Du schmälst
auf mich und meinen Geliebten, und ich bleibe dir doch gut. Man kann
dich nicht hassen. Du trägst dein gutes Herz in den Augen und auf der
Zunge, ohne daß du daran denkst. Du bist meine liebe schöne
Schwester. Deine kleinen Fehler sind fast ebenso gut als Schönheiten.
Wenigstens kann man sie nicht begehen, wenn man nicht so aufrichtig
ist, wie du bist. Kind, ich habe diese Nacht einen merkwürdigen Traum
von einer jungen angenehmen Braut gehabt und ich...
Julchen. Ich bitte dich, liebe Schwester, laß mich allein. Ich bin
verdrießlich, recht sehr verdrießlich, und ich werde es nur mehr, je
mehr ich rede.
Lottchen. Bist du etwan darüber verdrießlich, daß ich in der Heftigkeit
ein Wort wider den Herrn Damis...?
Julchen. O warum denkst du wieder an ihn? Willst du mich noch mehr
zu Fehlern bringen? Laß ihm doch seinen schwachen Verstand und mir
meinen verdrießlichen Geist und das Glück, einige Augenblicke allein
zu sein. Die ältern Schwestern haben doch immer etwas an den jüngern
auszusetzen.
Lottchen. Ich höre es wohl, ich soll gehen. Gut. Komm bald nach, sonst

mußt du wieder mit dir allein reden.
Neunter Auftritt
Julchen. Der Magister.
Julchen. Ist es nicht möglich, daß ich allein sein kann? Müssen Sie
mich notwendig stören? Herr Magister! Sagen Sie mir's nur kurz, was
zu Ihren Diensten ist.
Der Magister. Jungfer Muhme, ich will etwas mit Ihnen überlegen.
Vielleicht bin ich wegen meiner Jahre und meiner Erfahrung nicht
ungeschickt dazu. Ich liebe Sie, und Sie wissen, was der Verstand für
eine unentbehrliche Sache bei allen unsern Handlungen ist.
Julchen. Ja, das weiß ich. Demungeachtet wollte ich wünschen, daß ich
heute gar keinen hätte; vielleicht wäre ich ruhiger.
Der Magister. Sie übereilen sich. Wer würde uns das Wahre von dem
Falschen, das Scheingut von dem wahren Gute unterscheiden helfen?
Wer würde unsern Willen zu festen und glücklichen Entschließungen
bringen, wenn es nicht der Verstand täte? Und würden Sie wohl so
liebenswürdig geworden sein, wenn Sie nicht immer verständig
gewesen wären?
Julchen. Herr Magister, Sie sind ja nicht auf Ihrer Studierstube. Was
quälen Sie mich mit Ihrer Gelehrsamkeit? Ich mag ja nicht so weise
sein als Sie. Ich kann es auch nicht sein, weil ich nicht so viel
Geschicklichkeit besitze.
Der Magister. Zu eben der Zeit, da Sie wünschen, daß sie keine
Vernunft haben möchten, beweisen Sie durch Ihre Bescheidenheit, daß
Sie ihrer sehr viel haben. Ich fordere keine Gelehrsamkeit von Ihnen.
Ich will sogar die meinige vergessen, indem ich mit Ihnen spreche. Sie
sollen heute den Schritt zu Ihrem Glücke tun. Es scheint aber nicht, daß
Sie dazu entschlossen sind. Gleichwohl wünscht es Ihr Herr Vater
herzlich. Ich habe ihm versprochen, Ihnen einige kleine Vorstellungen
zu tun. Und ich wünschte, daß Sie solche anhören und mir Einwürfe

dagegen machen möchten. Dies kann ich, so alt ich bin, doch wohl
leiden. Die Liebe ist eine der schönsten, aber auch der gefährlichsten
Leidenschaften. Sie rächt sich an uns, wenn wir sie verschmähen; und
sie rächt sich auch, wenn wir uns in unserm Gehorsame übereilen.
Julchen. Sie sind etwas weitläuftig in Ihren Vorstellungen. Allein, Sie
sollen ohne Einwurf recht haben. Lassen Sie mich nur in Ruhe. Mein
Verstand ist freilich nicht so stark an Gründen als eine Philosophie.
Dennoch ist er noch immer stark genug für mein Herz gewesen.
Der Magister. Wissen Sie nicht, daß uns unsere Leidenschaften am
ersten besiegen, wenn sie am ruhigsten zu sein scheinen? Das Herz der
Menschen ist der größte Betrüger. Und der Klügste weiß oft selbst
nicht, was in ihm vorgeht. Wir lieben und werden es zuweilen nicht
eher gewahr, als bis wir nicht mehr geliebt werden. Dieses alles sollen
Sie nicht glauben, weil ich's sage. Nein, weil es die größten Kenner des
menschlichen Herzens, ein Sokrates, ein Plato,
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