Die ungleichen Schalen | Page 6

Jakob Wasserman
Wirklichkeit zerrann mir
vor den Augen, ich sah kein Hindernis mehr ... und als es geschehen
war, hab ich nicht Buße getan vor allem Volk?
Rasumowsky
Doch haben Sie dem Volk eine unheilbare Wunde geschlagen.
Orlow
(mit dem letzten Aufwand seiner gleißnerischen Beredtsamkeit)

Als ich zwölf Jahre alt war, Erlaucht, trieb mich mein Vater mit der
Peitsche vom Hof, weil ich für einen Leibeigenen, der die Todesstrafe
erleiden sollte, um Gnade gebeten hatte. Ich liebe unser Volk. Ich weiß,
wie sie leben, wie sie schmachten, wie sie Unrecht leiden, wie sie
stumm sind, wie sie ihre Hoffnung unermüdlich von Jahr zu Jahr tragen,
wie sie in ihrer Not die Herren preisen, die mit den Früchten ihrer
Arbeit Feste feiern, und wie sie auf den warten, der sie erlösen wird.
Ich weiß es und will ihrer nicht vergessen.
Rasumowsky
Ist mir doch, als ob ich Glocken hörte aus einem versunkenen Land,
Graf Orlow. (Er steht versunken, von Orlow gespannt beobachtet; wie
zu sich selbst) Ist es Rausch? oder Wahn? oder blinde Sucht der Jugend?
Leidenschaft macht beredt den, der sie hegt, und stumm den, der sie
begreift. (Laut) Sie führen eine ungewöhnliche Sprache, Graf Orlow,
die mich irre werden läßt an meinem Vorsatz.
Orlow
Ich danke Ihnen, Erlaucht.
Rasumowsky
(geht zur Wand, wo er neben dem Kamin auf eine geheime Feder in der
Täfelung drückt. Ein Türchen springt auf. Er entnimmt dem Schrein
eine goldene Kassette, die er öffnet und einige in roten Atlas
eingeschlagene vergilbte Papiere herauszieht)
Sieh da, wie viel Staub darauf liegt ... (Er stellt das Kästchen beiseite)
Staub ... Staub. Pulver der Vergessenheit. Überreste von Träumen. (Er
legt den Atlas in das Kästchen zurück und liest das oberste Papier
aufmerksam durch.)
Orlow
(der sich am Ziel glaubt)

Väterchen Alexei Grigorjewitsch! (Er sinkt auf die Kniee.)
Rasumowsky
(ergriffen und ganz in die Vergangenheit verloren)
Frühling und Sommer meines Lebens! (Er küßt die Papiere und erhebt,
sich bekreuzigend, die Blicke nach oben.)
Orlow
(packt in seiner Erregung mit beiden Händen die Papiere)
Geben Sie, Alexei Grigorjewitsch --!
Rasumowsky
(erschrocken)
Was für ein Ungestüm, Graf Orlow!
Orlow
(fast mit Wildheit, drohend)
Ich kniee vor Ihnen, Alexei Grigorjewitsch!
Rasumowsky
(beugt sich ein wenig vor und starrt in Orlows Gesicht)
Die Augen ... die Augen ...
Orlow
(springt empor)
Wollen Sie mich auf die Folter spannen, Graf Alexei? Ich ertrag's nicht
länger.

Rasumowsky
(kopfschüttelnd)
Ei, es ist eine ganz andere Stimme, die jetzt zu mir spricht.
Orlow
Genug gesäuselt.
Rasumowsky
Also nur Verstellung? Und so schlecht verstellt? So schnell überdrüssig
der Verstellung?
Orlow
Wollen Sie mir den Köder nur vorsetzen, um mich zappeln zu lassen?
Rasumowsky
Ach, Sie zeigen zu früh Ihr wahres Gesicht, Graf Orlow.
Orlow
Ich habe viele Gesichter, warum soll dies gerade mein wahres sein.
Wozu das Getändel? Zu Großes liegt vor mir. (Er zeigt seine weißen
Zähne, während sich die Worte stürmisch ergießen.) Von unten
heraufgestiegen, wo die Sklaven wohnen, begrüßt mich endlich das
Licht, und Welt und Kreatur schreit: Herr! Herr! Gnade! Gnade! Ja,
Herr will ich sein und Gnade soll von mir träufeln für alle, die sich
bücken. Wollust, zu befehlen, und mit einem Atemzug die Mächtigsten
zum Schweigen bringen! Alles unter mir sehen, was jetzt noch
verführerisch lockt, aus der Enge heraus, wo man horchen muß, ehe
man spricht, und rechnen, bevor man zahlt. Ohne Bedachtsamkeit leben,
planen ohne Angst und Maß! Unten gehört alles auch dem Nachbarn,
was mir gehört, oben bin ich allein und fürchte keine Grenze. Keine
Grenze fürchten, das ist's. Mit seinem Willen allein sein, frei mit jeder
Tat und doch der Richtpunkt aller Aufmerksamen. Ein Reich übersehen,

den Arm von Ozean zu Ozean strecken, die Willfährigen mit Provinzen
lohnen, die Unzufriedenen hinschmettern, -- und eine Kaiserin
umschlingen, eine Kaiserin, in den Mienen einer Kaiserin
Unterwerfung lesen, -- das ist mein Spiel, Alexei Grigorjewitsch! Die
Würfel liegen zwischen uns. Werfen Sie jetzt und zählen wir die
Augen.
Rasumowsky
(kalt)
So spricht ein Spieler. Im Würfelspiel mögen Sie gewinnen, Graf
Orlow, im Schicksalsspiel nicht.
Orlow
Auch das Schicksal kann man zwingen, alter Mann.
Rasumowsky
Wie den Teufel in der eigenen Brust.
Orlow
Wer würde anders handeln an meiner Stelle? Nur wenn ich zaudere,
verliere ich.
Rasumowsky
Und Gott soll mit bei diesem ... Spiele sein?
Orlow
Gott ist auf meiner Seite, weil ich will. Ich fühle die Bestimmung.
Rasumowsky
Über Blutbestimmung und Gottes Wahl läßt sich nicht rechten.

Orlow
Lügendunst! Zar Peter war ein Narr, ein Verräter, Affe des
Preußenkönigs, ein Schwächling. Herrliche Bestimmung!
Rasumowsky
Besser ein Schwächling als ein gewissenloser Emporkömmling.
Orlow
(hochmütig)
Die Brücke zwischen uns fängt an zu krachen, Erlaucht.
Rasumowsky
So mag sie bersten.
Orlow
Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren.
Rasumowsky
Doch die Zeit wird Sie auffressen.
Orlow
Jetzt, da Sie mich überzeugt haben, daß Sie die Dokumente besitzen
und sie in Ihrer Hand halten, kann ich Sie zwingen, Alexei
Grigorjewitsch.
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