Die ungleichen Schalen | Page 4

Jakob Wasserman

(erstaunt)
Einlaß begehren sie? Das Tor ist offen. War's denn nicht auch für euch

geöffnet?
Lassunsky
(zögernd)
Ich habe die Tore schließen lassen.
Rasumowsky
Die Tore meines Hauses?
Chidrowo
Ich denke, Erlaucht, man kann nicht mehr daran zweifeln, daß Orlow
den Kanzler überfallen ließ, um ihn dingfest zu machen.
Rasumowsky
Die Tore meines Hauses? (Lassunsky senkt schweigend den Kopf.) Soll
Orlow glauben, daß ich vor ihm zittere?
Chidrowo
Wie, Erlaucht, Sie wollen Orlow empfangen? (Erneutes Pochen von
unten.)
Rasumowsky
Geh, Michael Jefimowitsch, und sag, daß das Tor aufgesperrt werde.
Lassunsky
(flehend)
Erlaucht --
Rasumowsky

Klang es doppelzüngig, was ich gesagt?
Lassunsky
(geht schweigend ab --)
Chidrowo
(verschränkt die Arme; vor sich hin)
Verloren, Mütterchen Rußland, verloren ...
Rasumowsky
Eure Großmäuligkeit, was ist sie nutze? Ist euer Nein Vernunft, euer Ja
Überlegung? Ich will sehen. Sehen und hören will ich, dazu gab mir
Gott Augen und Ohren. Und wenn ich gesehen und gehört habe, dann
will ich wägen, dazu hat mir Gott die Erfahrung eines langen Lebens
zuteil werden lassen.
Lassunsky
(kommt zurück)
Major Nischinski ist es, man hat ihn vorausgesandt, um Euer Erlaucht
den Grafen Orlow zu melden.
Rasumowsky
Ich bin bereit.
Chidrowo
(noch leiser als oben)
Verloren, Mütterchen Rußland, verloren ...
Lassunsky

Ich sagte ihm, daß ich die Meldung übernehmen will.
Rasumowsky
(wie mit sich selber redend)
In ein Antlitz zu schauen, das heißt, Entschlüsse vom Schicksal selbst
empfangen. Läufst du hinauf die steile Bahn, Orlow, ohne daß dein
Herz klopft, so will ich prüfen, was für ein Ruf dich ereilt, was dich
zaudern macht, was dich feurig macht, was dich grausam macht, was
dich weckt. (Ekstatisch bewegt.) Nicht richten will ich, nur Werkzeug
eines Richters sein und handeln -- wie ich muß. (Mit der früheren
Stimme.) Michael Jefimowitsch!
Lassunsky
(der das Gesicht abgewandt und die eine Hand über die Augen gelegt
hatte)
Erlaucht --?
Rasumowsky
Wie geht es meiner Nichte Sofia?
Lassunsky
Wir erwarten täglich ihre Niederkunft, Erlaucht.
Rasumowsky
Bete für einen Knaben. Gott schenk uns Helden. (Man hört Schritte,
Stimmengesurr, Säbelklirren.)
Rodion
(reißt die Türe auf, feierlich)
Der General-Adjutant Kammerherr Graf Orlow.

Orlow
(tritt säbel- und sporenklirrend ein. Er trägt die Uniform der
Preobraschenskyschen Leibwachen. Seine Gestalt ist äußerst schlank,
sein Gesicht kalt, bleich, hochmütig und etwas verwüstet. Die Züge
verraten eine kaum zu bändigende Leidenschaftlichkeit. Er weiß um
seine Schönheit, ist eitel darauf und verachtet sie zugleich. Seine Hände
sind fein und lang. Er verbeugt sich tief vor Rasumowsky, die beiden
Offiziere scheint er zu übersehen.)
Ich komme hoffentlich nicht zu ungelegener Stunde, Graf Alexei?
Chidrowo
(kaum hörbar)
Verloren, Mütterchen Rußland, verloren ...
Rasumowsky
Michael Jefimowitsch, du wirst die Güte haben, drüben im gelben
Zimmer zu warten.
Lassunsky
Wir wollen keinesfalls stören.
Rasumowsky
Auch Sie, Fedor Alexandrowitsch, mögen warten, wenn es Ihnen
gefällig ist.
Chidrowo
Wenn es erlaubt ist, will ich warten. (Ab mit Lassunsky nach rechts.)
Rasumowsky
Nehmen Sie Platz, Graf Orlow. (Er setzt sich, legt die Bibel aus der

Hand.)
Orlow
(setzt sich gleichfalls)
Daß ich nicht mit einer langen Vorrede lästig falle, Erlaucht: Wie Ihnen
bekannt sein dürfte, hat sich Ihre Majestät, die Kaiserin, entschlossen
zu heiraten.
Rasumowsky
(bedächtig)
Wieder zu heiraten.
Orlow
Zar Peter ist tot.
Rasumowsky
Doch war er gekrönter und gesalbter Zar von Rußland.
Orlow
Ihm folgte von Gottes Gnaden Katharina.
Rasumowsky
Ich unterwerfe mich demütig ihrem mächtigen Willen.
Orlow
Ihre erhabene Majestät hat ihr Herz an einen Unwürdigen verschenkt,
den sie aus dem Staub zu sich auf den Thron erheben will. Dieser
Unwürdige befindet sich vor Ihnen, Erlaucht.
Rasumowsky

Und schaudert Ihnen nicht vor solcher Erhebung, Graf Orlow? Daß Sie
mit Worten der Bescheidenheit davon sprechen, steht Ihnen wohl an.
Ich hatte es nicht erwartet.
Orlow
Daß ich endlich einen Mann finde, dem ich mein volles und bedrücktes
Gemüt eröffnen kann! (Emphatisch.) Warum hat uns das Geschick
nicht früher einander näher kommen lassen!
Rasumowsky
Mein Los ist Einsamkeit seit langem, Graf Orlow. Fast kenne ich die
Welt nicht mehr, und fremd ist mir geworden, was sich außerhalb
dieser Schwelle begibt.
Orlow
So dacht ich mir's, Erlaucht, und nur mit frommen Empfindungen bin
ich genaht.
Rasumowsky
Unheilig war stets, was mir von draußen kam, das ist wahr. Doch liebe
ich die Jugend, wenn schon vieles mir unbegreiflich an ihr ist.
Orlow
(geschmeidig und beredt)
Wie Sie leicht ermessen können, Erlaucht, begegnet die edle Absicht
der Kaiserin dem Widerstand aller Großen des Reichs. Man beneidet
mich, man legt mir Fallstricke, man zettelt Verschwörungen an, ja man
schreckt nicht vor offenbaren Beleidigungen zurück, denen mein
Gleichmut unmöglich gewachsen ist.
Rasumowsky
Ja, ja, ja. Es ist geblieben, wie es immer war.

Orlow
Ich habe mich beherrschen gelernt, Erlaucht. Mein Vater hat mich in
Demut und Gehorsam erzogen. Niemals, in meinen verwegensten
Träumen nicht, konnte ich ahnen, daß der Blick meiner gnädigen
Herrscherin auf mich fallen würde. Wer kann es mir verargen, Erlaucht,
daß mein ganzes Blut sich in Hingebung für
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