Die griechische Tänzerin | Page 7

Arthur Schnitzler
vielleicht der Mut hatte ihm gefehlt, es auszusprechen. Und alles, was Carlo für ihn getan, war vergeblich gewesen; vergeblich die Reue, vergeblich das Opfer seines ganzen Lebens. Was sollte er nun tun? -- Sollte er noch weiterhin Tag für Tag, wer wei? wie lange noch, ihn durch die ewige Nacht führen, ihn betreuen, für ihn betteln und keinen anderen Lohn dafür haben als Mi?trauen und Schimpf? Wenn ihn der Bruder für einen Dieb hielt, so konnte ihm ja jeder Fremde dasselbe oder Besseres leisten als er. Wahrhaftig, ihn allein lassen, sich für immer von ihm trennen, das w?re das klügste. Dann mu?te Geronimo wohl sein Unrecht einsehen, denn dann erst würde er erfahren, was es hei?t, betrogen und bestohlen werden, einsam und elend sein. Und er selbst, was sollte er beginnen? Nun, er war ja noch nicht alt; wenn er für sich allein war, konnte er noch mancherlei anfangen. Als Knecht zum mindesten fand er überall sein Unterkommen. Aber w?hrend diese Gedanken durch seinen Kopf zogen, blieben seine Augen immer auf den Bruder geheftet. Und er sah ihn pl?tzlich vor sich, allein am Rande einer sonnbegl?nzten Stra?e auf einem Stein sitzen, mit den weit offenen, wei?en Augen zum Himmel starrend, der ihn nicht blenden konnte, und mit den H?nden in die Nacht greifend, die immer um ihn war. Und er fühlte, so wie der Blinde niemand anderen auf der Welt hatte als ihn, so hatte auch er niemand anderen als diesen Bruder. Er verstand, da? die Liebe zu diesem Bruder der ganze Inhalt seines Lebens war, und wu?te zum ersten Male mit v?lliger Deutlichkeit, nur der Glaube, da? der Blinde diese Liebe erwiderte und ihm verziehen, hatte ihn alles Elend so geduldig tragen lassen. Er konnte auf diese Hoffnung nicht mit einem Male verzichten. Er fühlte, da? er den Bruder gerade so notwendig brauchte als der Bruder ihn. Er konnte nicht, er wollte ihn nicht verlassen. Er mu?te entweder das Mi?trauen erdulden oder ein Mittel finden, um den Blinden von der Grundlosigkeit seines Verdachtes zu überzeugen ... Ja, wenn er sich irgendwie das Goldstück verschaffen k?nnte! Wenn er dem Blinden morgen früh sagen k?nnte: ?Ich habe es nur aufbewahrt, damit du's nicht mit den Arbeitern vertrinkst, damit es dir die Leute nicht stehlen? ... oder sonst irgend etwas ...
Schritte n?herten sich auf der Holztreppe; die Reisenden gingen zur Ruhe. Pl?tzlich durchzuckte seinen Kopf der Einfall, drüben anzuklopfen, den Fremden wahrheitsgetreu den heutigen Vorfall zu erz?hlen und sie um die zwanzig Franken zu bitten. Aber er wu?te auch gleich: das war vollkommen aussichtslos! Sie würden ihm die ganze Geschichte nicht einmal glauben. Und er erinnerte sich jetzt, wie erschrocken der eine blasse zusammengefahren war, als er, Carlo, pl?tzlich im Dunkel vor dem Wagen aufgetaucht war.
Er streckte sich auf den Strohsack hin. Es war ganz finster im Zimmer. Jetzt h?rte er, wie die Arbeiter laut redend und mit schweren Schritten über die Holzstufen hinabgingen. Bald darauf wurden beide Tore geschlossen. Der Knecht ging noch einmal die Treppe auf und ab, dann war es ganz still. Carlo h?rte nur mehr das Schnarchen Geronimos. Bald verwirrten sich seine Gedanken in beginnenden Tr?umen. Als er erwachte, war noch tiefe Dunkelheit um ihn. Er sah nach der Stelle, wo das Fenster war; wenn er die Augen anstrengte, gewahrte er dort mitten in dem undurchdringlichen Schwarz ein tiefgraues Viereck. Geronimo schlief noch immer den schweren Schlaf des Betrunkenen. Und Carlo dachte an den Tag, der morgen war; und ihn schauderte. Er dachte an die Nacht nach diesem Tage, an den Tag nach dieser Nacht, an die Zukunft, die vor ihm lag, und Grauen erfüllte ihn vor der Einsamkeit, die ihm bevorstand. Warum war er abends nicht mutiger gewesen? Warum war er nicht zu den Fremden gegangen und hatte sie um die zwanzig Franken gebeten? Vielleicht h?tten sie doch Erbarmen mit ihm gehabt. Und doch -- vielleicht war es gut, da? er sie nicht gebeten hatte. Ja, warum war es gut?... Er setzte sich j?h auf und fühlte sein Herz klopfen. Er wu?te, warum es gut war: Wenn sie ihn abgewiesen h?tten, so w?re er ihnen jedenfalls verd?chtig geblieben -- so aber ... Er starrte auf den grauen Fleck, der matt zu leuchten begann ... Das, was ihm gegen seinen eigenen Willen durch den Kopf gefahren, war ja unm?glich, vollkommen unm?glich!... Die Tür drüben war versperrt -- und überdies: sie konnten aufwachen ... Ja, dort -- der graue leuchtende Fleck mitten im Dunkel war der neue Tag -- -- --
Carlo stand auf, als z?ge es ihn dorthin, und berührte mit der Stirn die kalte Scheibe. Warum war er denn aufgestanden? Um zu überlegen?... Um es zu versuchen?... Was denn?... Es war ja unm?glich -- und überdies war es ein Verbrechen. Ein Verbrechen? Was bedeuten zwanzig Franken für solche Leute, die zum Vergnügen tausend Meilen weit reisen? Sie würden
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