Die griechische Tänzerin | Page 6

Arthur Schnitzler
hin und her, dann setzte er sich auf die Bank. Er war sehr müde. Es schien ihm, als w?re er in einem schweren Traum befangen. Er mu?te an allerlei denken, an gestern, vorgestern und alle Tage, die früher waren, und besonders an warme Sommertage und an wei?e Landstra?en, über die er mit seinem Bruder zu wandern pflegte, und alles war so weit und unbegreiflich, als wenn es nie wieder so sein k?nnte.
Am sp?ten Nachmittage kam die Post aus Tirol und bald darauf in kleinen Zwischenpausen Wagen, die den gleichen Weg nach dem Süden nahmen. Noch viermal mu?ten die Brüder in den Hof hinab. Als sie das letztemal heraufgingen, war die D?mmerung hereingebrochen, und das ?ll?mpchen, das von der Holzdecke herunterhing, fauchte. Arbeiter kamen, die in einem nahen Steinbruche besch?ftigt waren und ein paar hundert Schritte unterhalb des Wirtshauses ihre Holzhütten aufgeschlagen hatten. Geronimo setzte sich zu ihnen; Carlo blieb allein an seinem Tische. Es war ihm, als dauerte seine Einsamkeit schon sehr lange. Er h?rte, wie Geronimo drüben laut, beinahe schreiend, von seiner Kindheit erz?hlte: da? er sich noch ganz gut an allerlei erinnerte, was er mit seinen Augen gesehen, Personen und Dinge: an den Vater, wie er auf dem Felde arbeitete, an den kleinen Garten mit der Esche an der Mauer, an das niedrige H?uschen, das ihnen geh?rte, an die zwei kleinen T?chter des Schusters, an den Weinberg hinter der Kirche, ja an sein eigenes Kindergesicht, wie es ihm aus dem Spiegel entgegengeblickt hatte. Wie oft hatte Carlo das alles geh?rt. Heute ertrug er es nicht. Es klang anders als sonst: jedes Wort, das Geronimo sprach, bekam einen neuen Sinn und schien sich gegen ihn zu richten. Er schlich hinaus und ging wieder auf die Landstra?e, die nun ganz im Dunkel lag. Der Regen hatte aufgeh?rt, die Luft war sehr kalt, und der Gedanke erschien Carlo beinahe verlockend, weiterzugehen, immer weiter, tief in die Finsternis hinein, sich am Ende irgendwohin in den Stra?engraben zu legen, einzuschlafen, nicht mehr zu erwachen. -- Pl?tzlich h?rte er das Rollen eines Wagens und erblickte den Lichtschimmer von zwei Laternen, die immer n?her kamen. In dem Wagen, der vorüberfuhr, sa?en zwei Herren. Einer von ihnen mit einem schmalen, bartlosen Gesichte fuhr erschrocken zusammen, als Carlos Gestalt im Lichte der Laternen aus dem Dunkel hervortauchte. Carlo, der stehen geblieben war, lüftete den Hut. Der Wagen und die Lichter verschwanden. Carlo stand wieder in tiefer Finsternis. Pl?tzlich schrak er zusammen. Das erstemal in seinem Leben machte ihm das Dunkel Angst. Es war ihm, als k?nnte er es keine Minute l?nger ertragen. In einer sonderbaren Art vermengten sich in seinem dumpfen Sinnen die Schauer, die er für sich selbst empfand, mit einem qu?lenden Mitleid für den blinden Bruder und jagten ihn nach Hause.
Als er in die Wirtsstube trat, sah er die beiden Reisenden, die vorher an ihm vorbeigefahren waren, bei einer Flasche Rotwein an einem Tische sitzen und sehr angelegentlich miteinander reden. Sie blickten kaum auf, als er eintrat.
An dem anderen Tische sa? Geronimo wie früher unter den Arbeitern.
?Wo steckst du denn, Carlo?? sagte ihm der Wirt schon an der Tür. ?Warum l??t du deinen Bruder allein??
?Was gibt's denn?? fragte Carlo erschrocken.
?Geronimo traktiert die Leute. Mir kann's ja egal sein, aber ihr solltet doch denken, da? bald wieder schlechtere Zeiten kommen.?
Carlo trat rasch zu dem Bruder und fa?te ihn am Arme. ?Komm!? sagte er.
?Was willst du?? schrie Geronimo.
?Komm zu Bett,? sagte Carlo.
?La? mich, la? mich! Ich verdiene das Geld, ich kann mit meinem Gelde tun, was ich will -- eh! -- alles kannst du ja doch nicht einstecken! Ihr meint wohl, er gibt mir alles! O nein! Ich bin ja ein blinder Mann! Aber es gibt Leute -- es gibt gute Leute, die sagen mir: 'Ich habe deinem Bruder zwanzig Franken gegeben!'?
Die Arbeiter lachten auf.
?Es ist genug,? sagte Carlo, ?komm!? Und er zog den Bruder mit sich, schleppte ihn beinah die Treppe hinauf bis in den kahlen Bodenraum, wo sie ihr Lager hatten. Auf dem ganzen Wege schrie Geronimo: ?Ja, nun ist es an den Tag gekommen, ja, nun wei? ich's! Ah, wartet nur. Wo ist sie? Wo ist Maria? Oder legst du's ihr in die Sparkassa? -- Eh, ich singe für dich, ich spiele Gitarre, von mir lebst du -- und du bist ein Dieb!? Er fiel auf den Strohsack hin.
Vom Gang her schimmerte ein schwaches Licht herein; drüben stand die Tür zu dem einzigen Fremdenzimmer des Wirtshauses offen, und Maria richtete die Betten für die Nachtruhe her. Carlo stand vor seinem Bruder und sah ihn daliegen mit dem gedunsenen Gesicht, mit den bl?ulichen Lippen, das feuchte Haar an der Stirne klebend, um viele Jahre ?lter aussehend, als er war. Und langsam begann er zu verstehen. Nicht von heute konnte das Mi?trauen des Blinden sein, l?ngst mu?te es in ihm geschlummert haben, und nur der Anla?,
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