Die Wahlverwandtschaften | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
in bezug auf Eduard
dachte sie nicht mehr.
Der Hauptmann war auch angestiftet, Eduarden aufmerksam zu machen;
aber dieser, der seine frühe Liebe zu Charlotten hartnäckig im Sinne
behielt, sah weder rechts noch links und war nur glücklich in dem
Gefühl, daß es möglich sei, eines so lebhaft gewünschten und durch
eine Reihe von Ereignissen scheinbar auf immer versagten Gutes
endlich doch teilhaft zu werden.
Eben stand das Ehepaar im Begriff, die neuen Anlagen herunter nach
dem Schlosse zu gehen, als ein Bedienter ihnen hastig entgegenstieg
und mit lachendem Munde sich schon von unten herauf vernehmen
ließ:" kommen Euer Gnaden doch ja schnell herüber!
Herr Mittler ist in den Schloßhof gesprengt.
Er hat uns alle zusammengeschrieen, wir sollen sie aufsuchen, wir
sollen Sie fragen, ob es not tue.
'Ob es not tut', rief er uns nach, 'hört ihr?
Aber geschwind, geschwind!'.
"Der drollige Mann!" rief Eduard aus; "kommt er nicht gerade zur
rechten Zeit, Charlotte?"--"Geschwind zurück!" befahl er dem
Bedienten; "sage ihm, es tue not, sehr not!
Er soll nur absteigen.
Versorgt sein Pferd; führt ihn in den Saal, setzt ihm ein Frühstück vor!
Wir kommen gleich".
"Laß uns den nächsten Weg nehmen!" sagte er zu seiner Frau und

schlug den Pfad über den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden
pflegte.
Aber wie verwundert war er, als er fand, daß Charlotte auch hier für das
Gefühl gesorgt habe.
Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu
vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum
erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten.
Auch dem ältesten Stein hatte sie seine Ehre gegönnt.
Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder
sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit
vermannigfaltigt und geziert.
Eduard fühlte sich sonderbar überrascht, wie er durch die kleine Pforte
hereintrat: er drückte Charlotten die Hand, und im Auge stand ihm eine
Träne.

Aber der närrische Gast verscheuchte sie gleich.
Denn dieser hatte keine Ruh im Schloß gehabt, war spornstreichs
durchs Dorf bis an das Kirchhoftor geritten, wo er still hielt und seinen
Freunden entgegenrief: "Ihr habt mich doch nicht zum besten?
Tuts wirklich not, so bleibe ich zu Mittage hier.
Haltet mich nicht auf!
Ich habe heute noch viel zu tun".
"Da Ihr Euch so weit bemüht habt", rief ihm Eduard entgegen, "so
reitet noch vollends herein; wir kommen an einem ernsthaften Orte
zusammen; und seht, wie schön Charlotte diese Trauer ausgeschmückt
hat!" "Hier herein", rief der Reiter, "komm ich weder zu Pferde, noch
zu Wagen, noch zu Fuße.

Diese da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich nichts zu schaffen.
Gefallen muß ich mirs lassen, wenn man mich einmal, die Füße voran,
hereinschleppt.
Also ists Ernst?" "Ja", rief Charlotte, "recht Ernst! Es ist das erstemal,
daß wir neuen Gatten in Not und Verwirrung sind, woraus wir uns
nicht zu helfen wissen".
"Ihr seht nicht darnach aus", versetzte er, "doch will ichs glauben.
Führt ihr mich an, so laß ich euch künftig stecken.
Folgt geschwinde nach!
Meinem Pferde mag die Erholung zugut kommen".
Bald fanden sich die dreie im Saale zusammen; das Essen ward
aufgetragen, und Mittler erzählte von seinen heutigen Taten und
Vorhaben. Dieser seltsame Mann war früherhin Geistlicher gewesen
und hatte sich bei einer rastlosen Tätigkeit in seinem Amte dadurch
ausgezeichnet, daß er alle Streitigkeiten, sowohl die häuslichen als die
nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden
und mehrerer Gutsbesitzer zu stillen und zu schlichten wußte.
Solange er im Dienste war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen,
und die Landeskollegien wurden mit keinen Händeln und Prozessen
von dorther behelliget.
Wie nötig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr.
Er warf sein ganzes Studium darauf und fühlte sich bald den
geschicktesten Advokaten gewachsen.
Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus; und man war im
Begriff, ihn nach der Residenz zu ziehen, um das von oben herein zu
vollenden, was er von unten herauf begonnen hatte, als er einen
ansehnlichen Lotteriegewinst tat, sich ein mäßiges Gut kaufte, es
verpachtete und zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit machte, mit dem

festen Vorsatz oder vielmehr nach alter Gewohnheit und Neigung, in
keinem Hause zu verweilen, wo nichts zu schlichten und nichts zu
helfen wäre.
Diejenigen, die auf die Namensbedeutungen abergläubisch sind,
behaupten, der Name Mittler habe ihn genötigt, diese seltsamste aller
Bestimmungen zu ergreifen.
Der Nachtisch war aufgetragen, als der Gast seine Wirte ernstlich
vermahnte, nicht weiter mit ihren Entdeckungen zurückzuhalten, weil
er gleich nach dem Kaffee fort müsse.
Die beiden Eheleute machten umständlich ihre Bekenntnisse; aber
kaum hatte er den Sinn der Sache vernommen, als er verdrießlich vom
Tische auffuhr, ans Fenster sprang und sein Pferd zu satteln befahl.
"Entweder ihr kennt mich nicht", rief er aus, "ihr steht mich nicht, oder
ihr seid sehr boshaft.
Ist denn hier ein Streit?
Ist denn hier eine Hülfe nötig?
Glaubt ihr,
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