Die Wahlverwandtschaften | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
daß ich in der Welt bin, um Rat zu geben?
Das ist das dümmste Handwerk, das einer treiben kann.
Rate sich jeder selbst und tue, was er nicht lassen kann.
Gerät es gut, so freue er sich seiner Weisheit und seines Glücks; läufts
übel ab, dann bin ich bei der Hand.
Wer ein übel los sein will, der weiß immer, was er will; wer was
Bessers will, als er hat, der ist ganz starblind--ja ja!
Lacht nur--er spielt Blindekuh, er ertappts vielleicht; aber was?
Tut, was ihr wollt: es ist ganz einerlei!

Nehmt die Freunde zu euch, laßt sie weg: alles einerlei!
Das Vernünftigste habe ich mißlingen sehen, das Abgeschmackteste
gelingen.
Zerbrecht euch die Köpfe nicht, und wenns auf eine oder die andre
Weise übel abläuft, zerbrecht sie euch auch nicht!
Schickt nur nach mir, und euch soll geholfen werden.
Bis dahin euer Diener!" und so schwang er sich aufs Pferd, ohne den
Kaffee abzuwarten.
"Hier siehst du", sagte Charlotte, "wie wenig eigentlich ein Dritter
fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz
im Gleichgewicht steht.
Gegenwärtig sind wir doch wohl noch verworrner und ungewisser,
wenns möglich ist, als vorher".
Beide Gatten würden auch wohl noch eine Zeitlang geschwankt haben,
wäre nicht ein Brief des Hauptmanns im Wechsel gegen Eduards
letzten angekommen.
Er hatte sich entschlossen, eine der ihm angebotenen Stellen
anzunehmen, ob sie ihm gleich keineswegs gemäß war.
Er sollte mit vornehmen und reichen Leuten die Langeweile teilen,
indem man auf ihn das Zutrauen setzte, daß er sie vertreiben würde.
Eduard übersah das ganze Verhältnis recht deutlich und malte es noch
recht scharf aus".
"Wollen wir unsern Freund in einem solchen Zustande wissen?" rief er.
"Du kannst nicht so grausam sein, Charlotte!" "der wunderliche Mann,
unser Mittler", versetzte Charlotte, "hat am Ende doch recht.
Alle solche Unternehmungen sind Wagestücke.

Was daraus werden kann, sieht kein Mensch voraus.
Solche neue Verhältnisse können fruchtbar sein an Glück und an
Unglück, ohne daß wir uns dabei Verdienst oder Schuld sonderlich
zurechnen dürfen.
Ich fühle mich nicht stark genug, dir länger zu widerstehen. Laß uns
den Versuch machen!

Das einzige, was ich dich bitte: es sei nur auf kurze Zeit angesehen.
Erlaube mir, daß ich mich tätiger als bisher für ihn verwende und
meinen Einfluß, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm
eine Stelle zu verschaffen, die ihm nach seiner Weise einige
Zufriedenheit gewähren kann".
Eduard versicherte seine Gattin auf die anmutigste Weise der
lebhaftesten Dankbarkeit.
Er eilte mit freiem, frohem Gemüt, seinem Freunde Vorschläge
schriftlich zu tun.
Charlotte mußte in einer Nachschrift ihren Beifall eigenhändig
hinzufügen, ihre freundschaftlichen Bitten mit den seinen vereinigen.
Sie schrieb mit gewandter Feder gefällig und verbindlich, aber doch
mit einer Art von Hast, die ihr sonst nicht gewöhnlich war; und was ihr
nicht leicht begegnete, sie verunstaltete das Papier zuletzt mit einem
Tintenfleck, der sie ärgerlich machte und nur größer wurde, indem sie
ihn wegwischen wollte.
Eduard scherzte darüber, und weil noch Platz war, fügte er eine zweite
Nachschrift hinzu: der Freund solle aus diesen Zeichen die Ungeduld
sehen, womit er erwartet werde, und nach der Eile, womit der Brief
geschrieben, die Eilfertigkeit seiner Reise einrichten.
Der Bote war fort, und Eduard glaubte seine Dankbarkeit nicht

überzeugender ausdrücken zu können, als indem er aber--und abermals
darauf bestand, Charlotte solle zugleich Ottilien aus der Pension holen
lassen.
Sie bat um Aufschub und wußte diesen Abend bei Eduard die Lust zu
einer musikalischen Unterhaltung aufzuregen.
Charlotte spielte sehr gut Klavier, Eduard nicht ebenso bequem die
Flöte; denn ob er sich gleich zuzeiten viel Mühe gegeben hatte, so war
ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung
eines solchen Talentes gehört.
Er führte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur
vielleicht zu geschwind; bei andern wieder hielt er an, weil sie ihm
nicht geläufig waren, und so wär es für jeden andern schwer gewesen,
ein Duett mit ihm durchzubringen.
Aber Charlotte wußte sich darein zu finden; sie hielt an und ließ sich
wieder von ihm fortreißen und versah also die doppelte Pflicht eines
guten Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau, die im ganzen immer
das Maß zu erhalten wissen, wenn auch die einzelnen Passagen nicht
immer im Takt bleiben sollten.
Der Hauptmann kam.
Er hatte einen sehr verständigen Brief vorausgeschickt, der Charlotten
völlig beruhigte.
Soviel Deutlichkeit über sich selbst, soviel Klarheit über seinen eigenen
Zustand, über den Zustand seiner Freunde gab eine heitere und
fröhliche Aussicht.
Die Unterhaltungen der ersten Stunden waren, wie unter Freunden zu
geschehen pflegt, die sich eine Zeitlang nicht gesehen haben, lebhaft, ja
fast erschöpfend.
Gegen Abend veranlaßte Charlotte einen Spaziergang auf die neuen
Anlagen.

Der Hauptmann gefiel sich sehr in der Gegend und bemerkte jede
Schönheit, welche durch die neuen Wege erst sichtbar und genießbar
geworden.
Er hatte ein geübtes Auge und dabei ein genügsames; und ob er gleich
das Wünschenswerte
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 101
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.