Die Wahlverwandtschaften | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
Welt bildet, wenn sie Sprachen, Geschichtliches und was sonst
von Kennntnissen ihr mitgeteilt wird, so wie ihre Noten und
Variationen vom Blatte wegspielt; wenn bei einer lebhaften Natur und
bei einem glücklichen Gedächtnis sie, man möchte wohl sagen, alles
vergißt und im Augenblicke sich an alles erinnert; wenn sie durch
Freiheit des Betragens, Anmut im Tanze, schickliche Bequemlichkeit
des Gesprächs sich vor allen auszeichnet und durch ein angebornes
herrschendes Wesen Wesen sich zur Königin des kleinen Kreises macht,
wenn die Vorsteherin dieser Anstalt sie als kleine Gottheit ansieht, die
nun erst unter ihren Händen recht gedeiht, die ihr Ehre machen,
Zutrauen erwerben und einen Zufluß von andern jungen Personen
verschaffen wird, wenn die ersten Seiten ihrer Briefe und
Monatsberichte immer nur Hymnen sind über die Vortrefflichkeit eines
solchen Kindes, die ich denn recht gut in meine Prose zu übersetzen
weiß: so ist dagegen, was sie schließlich von Ottilien erwähnt, nur
immer Entschuldigung auf Entschuldigung, daß ein übrigens so schön
heranwachsendes Mädchen sich nicht entwickeln, keine Fähigkeiten
und keine Fertigkeiten zeigen wolle.

Das wenige, was sie sonst noch hinzufügt, ist gleichfalls für mich kein
Rätsel, weil ich in diesem lieben Kinde den ganzen Charakter ihrer
Mutter, meiner wertesten Freundin, gewahr werde, die sich neben mir
entwickelt hat und deren Tochter ich gewiß, wenn ich Erzieherin oder
Aufseherin sein könnte, zu einem herrlichen Geschöpf heraufbilden
wollte.
Da es aber einmal nicht in unsern Plan geht und man an seinen
Lebensverhältnissen nicht soviel zupfen und zerren, nicht immer was
Neues an sie heranziehen soll, so trag ich das lieber, ja ich überwinde
die unangenehme Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht gut
weiß, daß die arme Ottilie ganz von uns abhängt, sich ihrer Vorteile
übermütig gegen sie bedient und unsre Wohltat dadurch

gewissermaßen vernichtet.
Doch wer ist so gebildet, daß er nicht seine Vorzüge gegen andre
manchmal auf eine grausame Weise geltend machte!
Wer steht so hoch, daß er unter einem solchen Druck nicht manchmal
leiden müßte!
Durch diese Prüfungen wächst Ottiliens Wert; aber seitdem ich den
peinlichen Zustand recht deutlich einsehe, habe ich mir Mühe gegeben,
sie anderwärts unterzubringen.
Stündlich soll mir eine Antwort kommen, und alsdann will ich nicht
zaudern.
So steht es mit mir, mein Bester.
Du siehst, wir tragen beiderseits dieselben Sorgen in einem treuen,
freundschaftlichen Herzen.
Laß sie uns gemeinsam tragen, da sie sich nicht gegeneinander
aufheben!" "Wir sind wunderliche Menschen", sagte Eduard lächelnd.
"Wenn wir nur etwas, das uns Sorge macht, aus unserer Gegenwart
verbannen können, da glauben wir schon, nun sei es abgetan.
Im ganzen können wir vieles aufopfern, aber uns im einzelnen
herzugeben, ist eine Forderung, der wir selten gewachsen sind.
So war meine Mutter.
Solange ich als Knabe oder Jüngling bei ihr lebte, konnte sie der
augenblicklichen Besorgnisse nicht los werden.
Verspätete ich mich bei einem Ausritt, so mußte mir ein Unglück
begegnet sein; durchnetzte mich ein Regenschauer, so war das Fieber
mir gewiß.
Ich verreiste, ich entfernte mich von ihr, und nun schien ich ihr kaum

anzugehören.
Betrachten wir es genauer", fuhr er fort, "so handeln wir beide töricht
und unverantwortlich, zwei der edelsten Naturen, die unser Herz so
nahe angehen, im Kummer und im Druck zu lassen, nur um uns keiner
Gefahr auszusetzen.
Wenn dies nicht selbstsüchtig genannt werden soll, was will man so
nennen!
Nimm Ottilien, laß mir den Hauptmann, und in Gottes Namen sei der
Versuch gemacht!" "Es möchte noch zu wagen sein", sagte Charlotte
bedenklich, "wenn die Gefahr für uns allein wäre.
Glaubst du denn aber, daß es rätlich sei, den Hauptmann mit Ottilien
als Hausgenossen zu sehen, einen Mann ohngefähr in deinen Jahren, in
den Jahren--daß ich dir dieses Schmeichelhafte nur gerade unter die
Augen sage -, wo der Mann erst liebefähig und erst der Liebe wert wird,
und ein Mädchen von Ottiliens Vorzügen?" "Ich weiß doch auch nicht",
versetzte Eduard, "wie du Ottilien so hoch stellen kannst!
Nur dadurch erkläre ich mir's, daß sie deine Neigung zu ihrer Mutter
geerbt hat.
Hübsch ist sie, das ist wahr, und ich erinnere mich, daß der Hauptmann
mich auf sie aufmerksam machte, als wir vor einem Jahre zurückkamen
und sie mit dir bei einer Tante trafen.
Hübsch ist sie, besonders hat sie schöne Augen; aber ich wüßte doch
nicht, daß sie den mindesten Eindruck auf mich gemacht hätte". "Das
ist löblich an dir", sagte Charlotte, "denn ich war ja gegenwärtig; und
ob sie gleich viel jünger ist als ich, so hatte doch die Gegenwart der
ältern Freundin so viele Reize für dich, daß du über die aufblühende,
versprechende Schönheit hinaussahest.
Es gehört auch dies zu deiner Art zu sein, deshalb ich so gern das
Leben mit dir teile".

Charlotte, so aufrichtig sie zu sprechen schien, verhehlte doch etwas.
Sie hatte nämlich damals dem von Reisen zurückkehrenden Eduard
Ottilien absichtlich vorgeführt, um dieser geliebten Pflegetochter eine
so große Partie zuzuwenden; denn an sich selbst
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