Die Wahlverwandtschaften | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
Eduard, "bei Menschen, die nur

dunkel vor sich hinleben, nicht bei solchen, die, schon durch Erfahrung
aufgeklärt, sich mehr bewußt sind".
"Das Bewußtsein, mein Liebster", entgegnete Charlotte, "ist keine
hinlängliche Waffe, ja manchmal eine gefährliche für den, der sie führt;
und aus diesem allen tritt wenigstens soviel hervor, daß wir uns ja nicht
übereilen sollen.
Gönne mir noch einige Tage, entscheide nicht!"
"Wie die Sache steht", erwiderte Eduard, "werden wir uns auch nach
mehreren Tagen immer übereilen.
Die Gründe für und dagegen haben wir wechselsweise vorgebracht; es
kommt auf den Entschluß an, und da wär es wirklich das Beste, wir
gäben ihn dem Los anheim".
"Ich weiß", versetzte Charlotte, "daß du in zweifelhaften Fällen gerne
wettest oder würfelst; bei einer so ernsthaften Sache hingegen würde
ich dies für einen Frevel halten".
"Was soll ich aber dem Hauptmann schreiben?" rief Eduard aus; "denn
ich muß mich gleich hinsetzen".
"Einen ruhigen, vernünftigen, tröstlichen Brief", sagte Charlotte.
"Das heißt soviel wie keinen", versetzte Eduard.
"Und doch ist es in manchen Fällen", versetzte Charlotte, "notwendig
und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben".
Eduard fand sich allein auf seinem Zimmer, und wirklich hatte die
Wiederholung seiner Lebensschicksale aus dem Munde Charlottens,
die Vergegenwärtigung ihres beiderseitigen Zustandes, ihrer Vorsätze
sein lebhaftes Gemüt angenehm aufgeregt.
Er hatte sich in ihrer Nähe, in ihrer Gesellschaft so glücklich gefühlt,
daß er sich einen freundlichen, teilnehmenden, aber ruhigen und auf
nichts hindeutenden Brief an den Hauptmann ausdachte.

Als er aber zum Schreibtisch ging und den Brief des Freundes aufnahm,
um ihn nochmals durchzulesen, trat ihm sogleich wieder der traurige
Zustand des trefflichen Mannes entgegen; alle Empfindungen, die ihn
diese Tage gepeinigt hatten, wachten wieder auf, und es schien ihm
unmöglich, seinen Freund einer so ängstlichen Lage zu überlassen.
Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt.
Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Eltern, die ihn zu
einer seltsamen, aber höchst vorteilhaften Heirat mit einer viel älteren
Frau zu bereden wußten, von dieser auch auf alle Weise verzärtelt,
indem sie sein gutes Betragen gegen sie durch die größte Freigebigkeit
zu erwidern suchte, nach ihrem baldigen Tode sein eigner Herr, auf
Reisen unabhängig, jeder Abwechslung, jeder Veränderung mächtig,
nichts übertriebenes wollend, aber viel und vielerlei wollend, freimütig,
wohltätig, brav, ja tapfer im Fall--was konnte in der Welt seinen
Wünschen entgegenstehen!
Bisher war alles nach seinem Sinne gegangen, auch zum Besitz
Charlottens war er gelangt, den er sich durch eine hartnäckige, ja
romanenhafte Treue doch zuletzt erworben hatte; und nun fühlte er sich
zum erstenmal widersprochen, zum erstenmal gehindert, eben da er
seinen Jugendfreund an sich heranziehen, da er sein ganzes Dasein
gleichsam abschließen wollte.
Er war verdrießlich, ungeduldig, nahm einigemal die Feder und legte
sie nieder, weil er nicht einig mit sich werden konnte, was er schreiben
sollte.
Gegen die Wünsche seiner Frau wollte er nicht, nach ihrem Verlangen
konnte er nicht; unruhig wie er war, sollte er einen ruhigen Brief
schreiben; es wäre ihm ganz unmöglich gewesen.
Das Natürlichste war, daß er Aufschub suchte.
Mit wenig Worten bat er seinen Freund um Verzeihung, daß er diese
Tage nicht geschrieben, daß er heut nicht umständlich schreibe, und
versprach für nächstens ein bedeutenderes, ein beruhigendes Blatt.

Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach
derselben Stelle die Gelegenheit, das Gespräch wieder anzuknüpfen,
vielleicht in der überzeugung, daß man einen Vorsatz nicht sicherer
abstumpfen kann, als wenn man ihn öfters durchspricht.
Eduarden war diese Wiederholung erwünscht.
Er äußerte sich nach seiner Weise freundlich und angenehm; denn
wenn er, empfänglich wie er war, leicht aufloderte, wenn sein lebhaftes
Begehren zudringlich ward, wenn seine Hartnäckigkeit ungeduldig
machen konnte, so waren doch alle seine äußerungen durch eine
vollkommene Schonung des andern dergestalt gemildert, daß man ihn
immer noch liebenswürdig finden mußte, wenn man ihn auch
beschwerlich fand.
Auf eine solche Weise brachte er Charlotten diesen Morgen erst in die
heiterste Laune, dann durch anmutige Gesprächswendungen ganz aus
der Fassung, sodaß sie zuletzt ausrief: "du willst gewiß, daß ich das,
was ich dem Ehemann versagte, dem Liebhaber zugestehen soll.
Wenigstens, mein Lieber", fuhr sie fort, "sollst du gewahr werden, daß
deine Wünsche, die freundliche Lebhaftigkeit, womit du sie ausdrückst,
mich nicht ungerührt, mich nicht unbewegt lassen.
Sie nötigen mich zu einem Geständnis.
Ich habe dir bisher auch etwas verborgen.
Ich befinde mich in einer ähnlichen Lage wie du und habe mir schon
eben die Gewalt angetan, die ich dir nun über dich selbst zumute".
"Das hör ich gern", sagte Eduard; "ich merke wohl, im Ehestand muß
man sich manchmal streiten, denn dadurch erfährt man was
voneinander".
"Nun sollst du also erfahren", sagte Charlotte, "daß es mir mit Ottilien
geht, wie dir mit dem Hauptmann.

Höchst ungern weiß ich das liebe Kind in der Pension, wo sie sich in
sehr drückenden Verhältnissen befindet.
Wenn Luciane, meine Tochter, die für die Welt geboren ist, sich dort
für die
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