Die Wahlverwandtschaften | Page 5

Johann Wolfgang von Goethe
dieses
Zusammenhängende von ihnen gefordert wird.
Laß uns deswegen einen Blick auf unser gegenwärtiges, auf unser
vergangenes Leben werfen, und du wirst mir eingestehen, daß die
Berufung des Hauptmannes nicht so ganz mit unsern Vorsätzen, unsern
Planen, unsern Einrichtungen zusammentrifft.

Mag ich doch so gern unserer frühsten Verhältnisse gedenken! Wir
liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt; du
von mir, weil dein Vater, aus nie zu sättigender Begierde des Besitzes,
dich mit einer ziemlich älteren, reichen Frau verband; ich von dir, weil
ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden, nicht geliebten,
aber geehrten Manne meine Hand reichen mußte.
Wir wurden wieder frei; du früher, indem dich dein Mütterchen im
Besitz eines großen Vermögens ließ; ich später, eben zu der Zeit, da du
von Reisen zurückkamst.
So fanden wir uns wieder.
Wir freuten uns der Erinnerung, wir liebten die Erinnerung, wir
konnten ungestört zusammenleben.
Du drangst auf eine Verbindung; ich willigte nicht gleich ein, denn da
wir ungefähr von denselben Jahren sind, so bin ich als Frau wohl älter
geworden, du nicht als Mann.
Zuletzt wollte ich dir nicht versagen, was du für dein einziges Glück zu
halten schienst.
Du wolltest von allen Unruhen, die du bei Hof, im Militär, auf Reisen
erlebt hattest, dich an meiner Seite erholen, zur Besinnung kommen,
des Lebens genießen; aber auch nur mit mir allein.
Meine einzige Tochter tat ich in Pension, wo sie sich freilich
mannigfaltiger ausbildet, als bei einem ländlichen Aufenthalte
geschehen könnte; und nicht sie allein, auch Ottilien, meine liebe
Nichte, tat ich dorthin, die vielleicht zur häuslichen Gehülfin unter
meiner Anleitung am besten herangewachsen wäre.
Das alles geschah mit deiner Einstimmung, bloß damit wir uns selbst
leben, bloß damit wir das früh so sehnlich gewünschte, endlich spät
erlangte Glück ungestört genießen möchten.
So haben wir unsern ländlichen Aufenthalt angetreten.

Ich übernahm das Innere, du das äußere und was ins Ganze geht.
Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegenzukommen, nur
für dich allein zu leben; laß uns wenigstens eine Zeitlang versuchen,
inwiefern wir auf diese Weise miteinander ausreichen".
"Da das Zusammenhängende, wie du sagst, eigentlich euer Element ist",
versetzte Eduard, "so muß man euch freilich nicht in einer Folge reden
hören oder sich entschließen, euch recht zu geben; und du sollst auch
recht haben bis auf den heutigen Tag.
Die Anlage, die wir bis jetzt zu unserm Dasein gemacht haben, ist von
guter Art; sollen wir aber nichts weiter darauf bauen, und soll sich
nichts weiter daraus entwickeln?
Was sich im Garten leiste, du im Park, soll das nur für Einsiedler getan
sein?"
"Recht gut!" versetzte Charlotte, "recht wohl!
Nur daß wir nichts Hinderndes, Fremdes hereinbringen!
Bedenke, daß unsre Vorsätze, auch was die Unterhaltung betrifft, sich
gewissermaßen nur auf unser beiderseitiges Zusammensein bezogen.
Du wolltest zuerst die Tagebücher deiner Reise mir in ordentlicher
Folge mitteilen, bei dieser Gelegenheit so manches dahin Gehörige von
Papieren in Ordnung bringen und unter meiner Teilnahme, mit meiner
Beihülfe aus diesen unschätzbaren, aber verworrenen Heften und
Blättern ein für uns und andere erfreuliches Ganze zusammenstellen.
Ich versprach, dir an der Abschrift zu helfen, und wir dachten es uns so
bequem, so artig, so gemütlich und heimlich, die Welt, die wir
zusammen nicht sehen sollten, in der Erinnerung zu durchreisen. Ja, der
Anfang ist schon gemacht.
Dann hast du die Abende deine Flöte wieder vorgenommen, begleitest
mich am Klavier; und an Besuchen aus der Nachbarschaft und in die

Nachbarschaft fehlt es uns nicht.
Ich wenigstens habe mir aus allem diesem den ersten wahrhaft
fröhlichen Sommer zusammengebaut, den ich in meinem Leben zu
genießen dachte".
"Wenn mir nur nicht", versetzte Eduard, indem er sich die Stirne rieb,
"bei alle dem, was du mir so liebevoll und verständig wiederholst,
immer der Gedanke beiginge, durch die Gegenwart des Hauptmanns
würde nichts gestört, ja vielmehr alles beschleunigt und neu belebt.

Auch er hat einen Teil meiner Wanderungen mitgemacht; auch er hat
manches, und in verschiedenem Sinne, sich angemerkt: wir benutzten
das zusammen, und alsdann würde es erst ein hübsches Ganze werden".
"So laß mich denn dir aufrichtig gestehen", entgegnete Charlotte mit
einiger Ungeduld, "daß diesem Vorhaben mein Gefühl widerspricht,
daß eine Ahnung mir nichts Gutes weissagt".
"Auf diese Weise wäret ihr Frauen wohl unüberwindlich", versetzte
Eduard, "erst verständig, daß man nicht widersprechen kann, liebevoll,
daß man sich gern hingibt, gefühlvoll, daß man euch nicht weh tun mag,
ahnungsvoll, daß man erschrickt".
"Ich bin nicht abergläubisch", versetzte Charlotte, "und gebe nichts auf
diese dunklen Anregungen, insofern sie nur solche wären; aber es sind
meistenteils unbewußte Erinnerungen glücklicher und unglücklicher
Folgen, die wir an eigenen oder fremden Handlungen erlebt haben.
Nichts ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft
eines Dritten.
Ich habe Freunde gesehen, Geschwister, Liebende, Gatten, deren
Verhältnis durch den zufälligen oder gewählten Hinzutritt einer neuen
Person ganz und gar verändert, deren Lage völlig umgekehrt wurde".
"Das kann wohl geschehen", versetzte
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