Die Wahlverwandtschaften | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
genug", versetzte Charlotte.
"Nun freilich", sagte Eduard, "für einen Dritten ist auch wohl noch
Platz".
"Warum nicht?" versetzte Charlotte, "und auch für ein Viertes.
Für größere Gesellschaft wollen wir schon andere Stellen bereiten".
"Da wir denn ungestört hier allein sind", sagte Eduard, "und ganz
ruhigen, heiteren Sinnes, so muß ich dir gestehen, daß ich schon einige
Zeit etwas auf dem Herzen habe, was ich dir vertrauen muß und möchte,
und nicht dazu kommen kann".
"Ich habe dir so etwas angemerkt", versetzte Charlotte.
"Und ich will nur gestehen", fuhr Eduard fort, "wenn mich der Postbote
morgen früh nicht drängte, wenn wir uns nicht heut entschließen
müßten, ich hätte vielleicht noch länger geschwiegen".
"Was ist es denn?" fragte Charlotte freundlich entgegenkommend.
"Es betrifft unsern Freund, den Hauptmann", antwortete Eduard.

"Du kennst die traurige Lage, in die er, wie so mancher andere, ohne
sein Verschulden gesetzt ist.
Wie schmerzlich muß es einem Manne von seinen Kenntnissen, seinen
Talenten und Fertigkeiten sein, sich außer Tätigkeit zu sehen und--ich
will nicht lange zurückhalten mit dem, was ich für ihn wünsche: ich
möchte, daß wir ihn auf einige Zeit zu uns nähmen".
"Das ist wohl zu überlegen und von mehr als einer Seite zu betrachten",
versetzte Charlotte.
"Meine Ansichten bin ich bereit dir mitzuteilen", entgegnete ihr
Eduard.
"In seinem letzten Briefe herrscht ein stiller Ausdruck des tiefsten
Mißmutes; nicht daß es ihm an irgendeinem Bedürfnis fehle, denn er
weiß sich durchaus zu beschränken, und für das Notwendige habe ich
gesorgt; auch drückt es ihm nicht, etwas von mir anzunehmen, denn
wir sind unsre Lebzeit über einander wechselseitig uns so viel schuldig
geworden, daß wir nicht berechnen können, wie unser Kredit und
Debet sich gegeneinander verhalte--daß er geschäftlos ist, das ist
eigentlich seine Qual.
Das Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu andrer Nutzen täglich
und stündlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein Vergnügen, ja seine
Leidenschaft.
Und nun die Hände in den Schoß zu legen oder noch weiter zu
studieren, sich weitere Geschicklichkeit zu verschaffen, da er das nicht
brauchen kann, was er in vollem Maße besitzt--genug, liebes Kind, es
ist eine peinliche Lage, deren Qual er doppelt und dreifach in seiner
Einsamkeit empfindet".
"Ich dachte doch", sagte Charlotte, "ihm wären von verschiedenen
Orten Anerbietungen geschehen.
Ich hatte selbst um seinetwillen an manche tätige Freunde und
Freundinnen geschrieben, und soviel ich weiß, blieb dies auch nicht

ohne Wirkung".
"Ganz recht",versetzte Eduard; "aber selbst diese verschiedenen
Gelegenheiten, diese Anerbietungen machen ihm neue Qual, neue
Unruhe.
Keines von den Verhältnissen ist ihm gemäß.
Er soll nicht wirken; er soll sich aufopfern, seine Zeit seine
Gesinnungen, seine Art zu sein, und das ist ihm unmöglich.
Je mehr ich das alles betrachte, je mehr ich es fühle, desto lebhafter
wird der Wunsch, ihn bei uns zu sehen".
"Es ist recht schön und liebenswürdig von dir" versetzte Charlotte, "daß
du des Freundes Zustand mit soviel Teilnahme bedenkst; allein erlaube
mir, dich aufzufordern, auch deiner, auch unser zu gedenken".

"Das habe ich getan", entgegnete ihr Eduard.
"Wir können von seiner Nähe uns nur Vorteil und Annehmlichkeit
versprechen.
Von dem Aufwande will ich nicht reden, der auf alle Fälle gering für
mich wird, wenn er zu uns zieht, besonders wenn ich zugleich bedenke,
daß uns seine Gegenwart nicht die mindeste Unbequemlichkeit
verursacht.
Auf dem rechten Flügel des Schlosses kann er wohnen, und alles
andere findet sich.
Wieviel wird ihm dadurch geleistet, und wie manches Angenehme wird
uns durch seinen Umgang, ja wie mancher Vorteil!
Ich hätte längst eine Ausmessung des Gutes und der Gegend gewünscht;
er wird sie besorgen und leiten.

Deine Absicht ist, selbst die Güter künftig zu verwalten, sobald die
Jahre der gegenwärtigen Pächter verflossen sind.
Wie bedenklich ist ein solches Unternehmen!
Zu wie manchen Vorkenntnissen kann er uns nicht verhelfen!
Ich fühle nur zu sehr, daß mir ein Mann dieser Art abgeht.
Die Landleute haben die rechten Kenntnisse; ihre Mitteilungen aber
sind konfus und nicht ehrlich.
Die Studierten aus der Stadt und von den Akademien sind wohl klar
und ordentlich, aber es fehlt an der unmittelbaren Einsicht in die Sache.
Vom Freunde kann ich mir beides versprechen; und dann entspringen
noch hundert andere Verhältnisse daraus, die ich mir alle gern
vorstellen mag, die auch auf dich Bezug haben und wovon ich viel
Gutes voraussehe.
Nun danke ich dir, daß du mich freundlich angehört hast; jetzt sprich
aber auch recht frei und umständlich und sage mir alles, was du zu
sagen hast; ich will dich nicht unterbrechen".
"Recht gut", versetzte Charlotte; "so will ich gleich mit einer
allgemeinen Bemerkung anfangen.
Die Männer denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwärtige, und
das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind, die Weiber
hingegen mehr auf das, was im Leben zusammenhängt, und das mit
gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien an
diesen Zusammenhang geknüpft ist und auch gerade
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