Die Wahlverwandtschaften | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
versetzte Charlotte, "notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben".
Eduard fand sich allein auf seinem Zimmer, und wirklich hatte die Wiederholung seiner Lebensschicksale aus dem Munde Charlottens, die Vergegenw?rtigung ihres beiderseitigen Zustandes, ihrer Vors?tze sein lebhaftes Gem��t angenehm aufgeregt.
Er hatte sich in ihrer N?he, in ihrer Gesellschaft so gl��cklich gef��hlt, da? er sich einen freundlichen, teilnehmenden, aber ruhigen und auf nichts hindeutenden Brief an den Hauptmann ausdachte.
Als er aber zum Schreibtisch ging und den Brief des Freundes aufnahm, um ihn nochmals durchzulesen, trat ihm sogleich wieder der traurige Zustand des trefflichen Mannes entgegen; alle Empfindungen, die ihn diese Tage gepeinigt hatten, wachten wieder auf, und es schien ihm unm?glich, seinen Freund einer so ?ngstlichen Lage zu ��berlassen.
Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt.
Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Eltern, die ihn zu einer seltsamen, aber h?chst vorteilhaften Heirat mit einer viel ?lteren Frau zu bereden wu?ten, von dieser auch auf alle Weise verz?rtelt, indem sie sein gutes Betragen gegen sie durch die gr??te Freigebigkeit zu erwidern suchte, nach ihrem baldigen Tode sein eigner Herr, auf Reisen unabh?ngig, jeder Abwechslung, jeder Ver?nderung m?chtig, nichts ��bertriebenes wollend, aber viel und vielerlei wollend, freim��tig, wohlt?tig, brav, ja tapfer im Fall--was konnte in der Welt seinen W��nschen entgegenstehen!
Bisher war alles nach seinem Sinne gegangen, auch zum Besitz Charlottens war er gelangt, den er sich durch eine hartn?ckige, ja romanenhafte Treue doch zuletzt erworben hatte; und nun f��hlte er sich zum erstenmal widersprochen, zum erstenmal gehindert, eben da er seinen Jugendfreund an sich heranziehen, da er sein ganzes Dasein gleichsam abschlie?en wollte.
Er war verdrie?lich, ungeduldig, nahm einigemal die Feder und legte sie nieder, weil er nicht einig mit sich werden konnte, was er schreiben sollte.
Gegen die W��nsche seiner Frau wollte er nicht, nach ihrem Verlangen konnte er nicht; unruhig wie er war, sollte er einen ruhigen Brief schreiben; es w?re ihm ganz unm?glich gewesen.
Das Nat��rlichste war, da? er Aufschub suchte.
Mit wenig Worten bat er seinen Freund um Verzeihung, da? er diese Tage nicht geschrieben, da? er heut nicht umst?ndlich schreibe, und versprach f��r n?chstens ein bedeutenderes, ein beruhigendes Blatt.
Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach derselben Stelle die Gelegenheit, das Gespr?ch wieder anzukn��pfen, vielleicht in der ��berzeugung, da? man einen Vorsatz nicht sicherer abstumpfen kann, als wenn man ihn ?fters durchspricht.
Eduarden war diese Wiederholung erw��nscht.
Er ?u?erte sich nach seiner Weise freundlich und angenehm; denn wenn er, empf?nglich wie er war, leicht aufloderte, wenn sein lebhaftes Begehren zudringlich ward, wenn seine Hartn?ckigkeit ungeduldig machen konnte, so waren doch alle seine ?u?erungen durch eine vollkommene Schonung des andern dergestalt gemildert, da? man ihn immer noch liebensw��rdig finden mu?te, wenn man ihn auch beschwerlich fand.
Auf eine solche Weise brachte er Charlotten diesen Morgen erst in die heiterste Laune, dann durch anmutige Gespr?chswendungen ganz aus der Fassung, soda? sie zuletzt ausrief: "du willst gewi?, da? ich das, was ich dem Ehemann versagte, dem Liebhaber zugestehen soll.
Wenigstens, mein Lieber", fuhr sie fort, "sollst du gewahr werden, da? deine W��nsche, die freundliche Lebhaftigkeit, womit du sie ausdr��ckst, mich nicht unger��hrt, mich nicht unbewegt lassen.
Sie n?tigen mich zu einem Gest?ndnis.
Ich habe dir bisher auch etwas verborgen.
Ich befinde mich in einer ?hnlichen Lage wie du und habe mir schon eben die Gewalt angetan, die ich dir nun ��ber dich selbst zumute".
"Das h?r ich gern", sagte Eduard; "ich merke wohl, im Ehestand mu? man sich manchmal streiten, denn dadurch erf?hrt man was voneinander".
"Nun sollst du also erfahren", sagte Charlotte, "da? es mir mit Ottilien geht, wie dir mit dem Hauptmann.
H?chst ungern wei? ich das liebe Kind in der Pension, wo sie sich in sehr dr��ckenden Verh?ltnissen befindet.
Wenn Luciane, meine Tochter, die f��r die Welt geboren ist, sich dort f��r die Welt bildet, wenn sie Sprachen, Geschichtliches und was sonst von Kennntnissen ihr mitgeteilt wird, so wie ihre Noten und Variationen vom Blatte wegspielt; wenn bei einer lebhaften Natur und bei einem gl��cklichen Ged?chtnis sie, man m?chte wohl sagen, alles vergi?t und im Augenblicke sich an alles erinnert; wenn sie durch Freiheit des Betragens, Anmut im Tanze, schickliche Bequemlichkeit des Gespr?chs sich vor allen auszeichnet und durch ein angebornes herrschendes Wesen Wesen sich zur K?nigin des kleinen Kreises macht, wenn die Vorsteherin dieser Anstalt sie als kleine Gottheit ansieht, die nun erst unter ihren H?nden recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen erwerben und einen Zuflu? von andern jungen Personen verschaffen wird, wenn die ersten Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte immer nur Hymnen sind ��ber die Vortrefflichkeit eines solchen Kindes, die ich denn recht gut in meine Prose zu ��bersetzen wei?: so ist dagegen, was sie schlie?lich von Ottilien erw?hnt, nur immer Entschuldigung auf Entschuldigung, da? ein ��brigens so sch?n heranwachsendes M?dchen sich nicht entwickeln, keine F?higkeiten und keine Fertigkeiten zeigen wolle.

Das wenige, was sie sonst noch hinzuf��gt, ist gleichfalls f��r mich kein R?tsel, weil ich in
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