Die Richterin: Novelle | Page 6

Conrad Ferdinand Meyer
Herr. Jung bin ich ausgewandert, doch kenne ich Sprache und Steige."
"So reite und berichte."
"Dir zu Dienste, Herr", verabschiedete sich Wulfrin, wurde aber von dem hartn?ckigen Gnadenreich gehalten, der sich seiner bem?chtigte und ihn vor den Kaiser zur��ckbrachte. "Durchlauchtigster", verklagte er ihn, "er soll auf Malmort bei der Richterin, seiner Stiefmutter, erscheinen, keiner andern als die dir den Brief geschrieben hat, und er will nicht. Sie besteht darauf, sich vor ihm zu rechtfertigen ��ber das j?he Sterben ihres Gemahles des Comes Wulf."
"Jener?" besann sich der Kaiser. "Er hat mir und schon meinem Vater gedient und verungl��ckte im r?tischen Gebirge."
"Vor dem Kastell und zu den F��?en seines Weibes Stemma, die ihm den Willkomm kredenzt hatte", erinnerte Gnadenreich.
Karl verfiel in ein Nachdenken. "Eben habe ich f��r die Seele meines Vaters gebetet", sagte er. "Kindliche Bande reichen in das Grab. Mich d��nkt, Wulfrin, du darfst bei der Richterin nicht ausbleiben. Du bist es deinem Vater schuldig."
Wulfrin schwieg trotzig. Jetzt griff der Kaiser rechts nach dem Hifthorn, um die ganze Schule zusammenzurufen und ihr seine Befehle zu geben. Es mangelte. Er hatte es im Palaste vergessen oder absichtlich zur��ckgelassen, um der Messe als ein Friedfertiger beizuwohnen. "Deines, Trotzkopf!" gebot er, und Wulfrin hob sich sein Hifthorn ��ber das Haupt. Karl betrachtete es eine Weile. "Es ist von einem Elk", sagte er, hob es an den Mund und stie? darein. Da gab das Horn einen so gewaltigen und grauenhaften Ton, da? nicht nur die H?flinge aus allen Ecken und Enden des Kapitols hervorst��rzten, sondern auch, was sich ringsum von r?mischem Volke geh?uft hatte, erstaunt und erschreckt die K?pfe reckte, als nahe ein pl?tzliches Gericht. Karl aber stand wie ein Cherub.
Im Gedr?nge des Aufbruchs machte sich der Bischofsneffe noch einmal an den H?fling. "Auf Wiedersehen in Malmort: du gehorchst?"
"Nein", antwortete Wulfrin.

Zweites Kapitel
Innerhalb der dicken Mauern eines wie aus dem Felsen gewachsenen r?tischen Kastells sprudelte ein Quell in kl?sterlicher Stille. Durch die Zacken bemooster Ahorne rauschte der Abendwind m?chtig ��ber den Hof weg, und schon r��ckte das Sp?trot hinauf an dem klotzigen Gem?uer. Am Brunnen aber stand ein junges M?dchen und lie? den heftigen Strahl in einen Becher springen, aus dessen von Alter geschw?rztem Silber er sch?umend empor und ihr ��ber die blo?en Arme spritzte.
"Berg und Wetter sind gut", murmelte sie. "Mir brannten die Sohlen von fr��h an, ihm entgegen zu rennen. Kommt er heute noch? oder erst morgen? oder ��bermorgen zum allersp?testen! Graciosus verschwor sich, der Bruder ziehe mit dem Kaiser--nein, er reite ihm weit voraus! Und der Kaiser ist nahe, was fl��chteten sonst die Lombarden Hals ��ber Kopf? Bum!" machte sie und ahmte den dumpfen Schlag einer Laue nach, dem bald ein zweiter und noch der dritte folgte, denn im Gebirge, das in Gestalt einer breiten blanken Firn ��ber die Firste blickte, hatte es heute in einem fort gerieselt und geschmolzen.
"Die ihr auf wei?en St��rzen in den Abgrund schlittet, seid ihm hold, b?rtige Zwerge! Verberget ihm nicht den Pfad, versch��ttet ihm nicht die Hufen des Rosses! Sprudle, Flut! Sp��l aus den Hauch des Todes! Lust und Leben trinke der Bruder!" und sie streckte den schlanken Arm. Dann hob sie den gebadeten Becher in die H?he der Augen und buchstabierte den Elbenspruch, welchen sie sich deutlicher in das Herz schrieb, als er mit erblindeten Lettern in das Silber gegraben stand. Der Spruch aber lautete folgenderma?en:
"Gesegnet seiest du! Leg ab das Schwert und ruh! Genie?e Heim und Rast Als Herr und nicht als Gast! Den Wulfenbecher hier Dreimal kredenz ich dir! Erfreue dich am Wein! Willkomm..."
Hier schlo? entweder der zaubert��chtige Spruch oder dann kam noch etwas g?nzlich Unleserliches, wenn es nicht zuf?llige Male der Verwitterung waren.
Eigentlich wu?te sie ihn schon lange auswendig. Sie sagte ihn vorw?rts, das ging, r��ckw?rts, das ging auch. Dann sah sie ihn darauf an--zum wievielten Male!--, ob er ihr mundgerecht sei und von der Schwester dem Bruder sich sagen lasse, denn Graciosus hatte es erraten: sie liebkoste den Wunsch, mit dem Wulfenbecher dazustehen und ihn Wulfrin zu kredenzen. Ob es die Mutter erlaube? Diese machte sich mit dem Becher nichts zu schaffen, sie lie? ihn, wo er langeher seinen Platz hatte. Der Spruch gefiel dem M?dchen, und es malte sich die Ankunft.
"Das Horn klingt! Oder w?re es m?glich, da? er mich still beschliche? mit heimlichen Schritten? Aber nein, er will ja nichts von mir wissen--wenn Graciosus nicht seinen Scherz mit mir getrieben hat. Das Horn dr?hnt! Ich ergreife den Becher, fliege der Mutter voran--oder noch lieber, sie ist verritten, und ich bin Herrin im Hause--jetzt naht er! jetzt kommt er!" Ihr Herz pochte. Sie begann zu zittern und zu zagen. "Er ist da! er ist hinter mir!" Sie wendete sich z?gernd erst, dann pl?tzlich gegen das Burgtor. In der niedern W?lbung desselben stand kein junger Held, aber lauernd dr��ckte sich dort ein armseliger Pickelhering.
Das M?dchen brach in ein entt?uschtes Gel?chter aus und trat beherzt
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