Die Richterin: Novelle | Page 5

Conrad Ferdinand Meyer
nicht daf��r, da? es auf die Welt gekommen ist. Doch auch von ihr will ich nichts wissen." W?hrend er redete, z?hlte sein Blick die Jahresringe der jungen Palme. "F��nfzehn Ringe?" sagt er.
"F��nfzehn Jahre", berichtigte Graciosus.
"Und wie schaut sie?"
"Stark und warm", antwortete Gnadenreich mit einem unterdr��ckten Seufzer. "Sie ist gut, aber wild."
"So ist es recht. Und dennoch will ich nichts von ihr wissen."
"Sie aber wei? von nichts anderm als von dem fremden, reisigen, fabelhaften Bruder, der sich mit den Sachsen balgt und mit den Sarazenen rauft. 'Wann der Bruder kommt'--'Das geh?rt dem Bruder'--'Das mu? man den Bruder fragen'--davon werden ihr die Lippen nicht trocken. Jedes Hifthorn jagt sie auf, sie springt nach deinem Becher und damit an den Brunnen. Sie w?scht ihn, sie reibt ihn, sie sp��lt ihn."
"Warum, Narr?"
"Weil sie dir ihn kredenzen will und dein Vater sich daraus den Tod getrunken hat."
"Dummes Ding! Du also wirbst um sie?"
Der ertappte Graciosus err?tete wie ein M?dchen. "Die Mutter beg��nstigt mich, aber an ihr selbst werde ich irre", gestand er. "K?mest du heim, ich b?te dich, ein Wort mit ihr zu reden."
Wieder musterte Wulfrin den netten J��ngling und wieder klopfte er ihn auf die Schulter. "Sie h?lt dich zum besten?" sagte er.
"Sie redet R?tsel. Da ich neulich auf mein Herz anspielte"--
"Schlug sie die Augen nieder?"
"Nein, die schweiften. Dann zeigte sie mit dem Finger einen Punkt im Himmel. Ich blinzte. Ein Geier, der ein Lamm davontrug. Unverst?ndlich."
"Klar wie der Morgen. 'Raube mich.' Das M?dchen gef?llt mir."
"Du willst sie sehen?"
"Niemals."
Jetzt trat ein Palastsch��ler mit suchenden Blicken in den Hofraum und dann rasch auf Wulfrin zu. "Du", sagte er, "die Messe ist aus, der K?nig verl??t die Kirche." Der "Kaiser" wollte ihm noch nicht ��ber die Zunge.
Wulfrin sprang auf. "Nimm mich mit!" bat Graciosus, "damit ich dem Herrn der Erde nahe trete und ihn reden h?re."
"Komm", willfahrte Wulfrin gutm��tig, und bald standen sie neben dem Kaiser, vor welchem ein ehrw��rdiger, aber etwas verwilderter Graubart das Knie bog. Gnadenreich erkannte Rudio, den Kastellan auf Malmort, und wunderte sich, welche Botschaft der R?ter bringe, denn Karl hielt ein Schreiben in der Hand. Er reichte es dem Abte, und Alcuin las vor:
"Erhabener, da ich h?re, Du werdest von Rom nach dem Rheine ziehen, flehe ich Dich an, da? Du Deinen Weg durch R?tia nehmest. Seit Jahren haben sich in unsern verwickelten T?lern versprengte Lombarden eingenistet unter einem Witigis, der sich Herzog nennt. Wir, die Herrschenden im Lande, unter uns selbst uneins und ohne Haupt, werden nicht mit ihnen fertig, ja einige von uns zahlen ihnen Tribut. Ein unertr?glicher Zustand. Du bist der Kaiser. Wenn du kommst und Ordnung schaffst, so tust Du, was Deines Amtes ist. Stemma, Judicatrix."
"Keine Schw?tzerin", sagte der Kaiser. "Meine Sendboten haben mir von der Frau erz?hlt." Alcuin betrachtete die Handschrift. "Feste Z��ge", lobte er.
"Alcuin, du Abgrund des Wissens", l?chelte Karl, "was ist R?tien? Welche P?sse f��hren dahin?"
Der kleine Abt f��hlte sich durch Lob und Frage geschmeichelt, wendete sich aber nicht an den Gebieter, sondern, als der H?fling und der Schulmeister, welcher er war, an die Palastschule, die schon zu einem guten Drittel, den Blondbart inbegriffen, um den Kaiser versammelt stand.
"J��nglinge", lehrte er und zog die Brauen in die H?he, "wer seinen Weg durch das r?tische Gebirge nimmt, hat, ohne den harten, aber in St��cke zerrissenen Damm einer R?merstra?e zu z?hlen, die Wahl zwischen mehreren Steigen, die sich alle jenseits des Schnees am jungen Rheine zusammenfinden. Diese Wege und Stapfen f��hren im Geisterlicht der Firne durch ein beirrendes Netz verstrickter T?ler, das die Fabel mit ihren zweifelhaften Gestalten und luftigen Schrecken bev?lkert. Hier ringelt sich die Schlangenk?nigin, wie verlockt von einer Schale Milch, einem blanken Wasser zu, gegen��ber, aus einem finstern Borne, taucht die Fei und wehklagt."
"Lehrer, was hat sie f��r Gr��nde dazu?" fragte der Rotbart wi?begierig.
"Sie ahnt das ewige Gut und kann nicht selig werden. Dahinter, zwischen Schnee und Eis, in einem gr��nen Winkel, weidet eine glockenlose Herde, und ein kolossaler Hirte, halb Firn halb Wolke, neigt sich ��ber sie. Tiefer unten, bei den ersten Stapfen, verliert die harmlose Fabel ihre Kraft, und menschliche Schuld findet ihre H?hlen und Schlupfwinkel. Hier raucht und schwelt eine gebrochene Burg, dort starrt, von Raben umflattert, ein M?rder in den zerschmetternden Abgrund."
"Wen hat er hinuntergeworfen?" fragte der Rotbart sp?ttisch.
"Eheu!" jammerte der Abt, "bist du es, Liebling meiner Seele, Peregrin, mein bester Sch��ler, dessen Knochen in der r?tischen Schlucht bleichen?" Er trocknete sich eine Tr?ne. Dann schlo? er: "Gegen beides, Fabel und S��nde, h?lt Bischof Felix in Chur beschw?rend seinen Krummstab empor."
"In schwachen H?nden", scherzte der Kaiser.
"Er ist sehr sch?n gearbeitet", rief Graciosus mit der schallenden Stimme eines Chorknaben, "und in seiner Kr��mmung neigt sich der Verk��ndigungsengel mit der Inschrift: Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen."
Karl g?nnte dem Bischofsneffen einen heitern Blick und wendete sich gegen die Schule: "Stammt einer von euch aus R?tien?"
Wulfrin trat vor. "Ich,
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