Die Regentrude | Page 6

Theodor W. Storm
Arme fest um seinen Hals gelegt hatte, stieg er
behutsam mit ihr in die Tiefe. Dichte Finsternis umgab sie; aber Maren
atmete doch auf, während sie so Stufe um Stufe wie in einem
gewundenen Schneckengange hinabgetragen wurde; denn es war kühl
hier im Innern der Erde. Kein Laut von oben drang zu ihnen herab; nur
einmal hörten sie dumpf aus der Ferne die unterirdischen Wasser
brausen, die vergeblich zum Lichte emporarbeiteten.
"Was war das?" flüsterte das Mädchen.
"Ich weiß nicht, Maren."

"Aber hat's denn noch kein Ende?"
"Es scheint fast nicht."
"Wenn dich der Kobold nur nicht betrogen hat!"
"Ich denke nicht, Maren."
So stiegen sie tiefer und tiefer. Endlich spürten sie wieder den
Schimmer des Sonnenlichts unter sich, das mit jedem Tritt leuchtender
wurde; zugleich aber drang auch eine erstickende Hitze zu ihnen
herauf.
Als sie von der untersten Stufe ins Freie traten, sahen sie eine gänzlich
unbekannte Gegend vor sich. Maren sah befremdet umher. "Die Sonne
scheint aber doch dieselbe zu sein!" sagte sie endlich.
"Kälter ist sie wenigstens nicht", meinte Andrees, indem er das
Mädchen zur Erde hob.
Von dem Platze, wo sie sich befanden, auf einem breiten Steindamm,
lief eine Allee von alten Weiden in die Ferne hinaus. Sie bedachten sich
nicht lange, sondern gingen, als sei ihnen der Weg gewiesen, zwischen
den Reihen der Bäume entlang. Wenn sie nach der einen oder andern
Seite blickten, so sahen sie in ein ödes, unabsehbares Tiefland, das so
von aller Art von Rinnen und Vertiefungen zerrissen war, als bestehe es
nur aus einem endlosen Gewirre verlassener See- und Strombetten.
Dies schien auch dadurch bestätigt zu werden, daß ein beklemmender
Dunst, wie von vertrocknetem Schilf, die Luft erfüllte. Dabei lagerte
zwischen den Schatten der einzeln stehenden Bäume eine solche Glut,
daß es den beiden Wanderern war, als sähen sie kleine weiße Flammen
über den staubigen Weg dahinfliegen. Andrees mußte an die Flocken
aus dem Feuerbarte des Kobolds denken. Einmal war es ihm sogar, als
sähe er zwei dunkle Augenringe in dem grellen Sonnenschein; dann
wieder glaubte er deutlich neben sich das tolle Springen der kleinen
Spindelbeine zu hören. Bald war es links, bald rechts an seiner Seite.
Wenn er sich aber wandte, vermochte er nichts zu sehen; nur die
glutheiße Luft zitterte flirrend und blendend vor seinen Augen. Ja,

dachte er, indem er des Mädchens Hand erfaßte und beide mühsam
vorwärts schritten, sauer machst du's uns, aber recht behältst du heute
nicht!
Weiter und weiter gingen sie, der eine nur auf das immer schwerere
Atmen des andern hörend. Der einförmige Weg schien kein Ende zu
nehmen; neben ihnen unaufhörlich die grauen, halb entblätterten
Weiden, seitwärts hüben und drüben unter ihnen die unheimlich
dunstende Niederung.
Plötzlich blieb Maren stehen und lehnte sich mit geschlossenen Augen
an den Stamm einer Weide. "Ich kann nicht weiter", murmelte sie; "die
Luft ist lauter Feuer."
Da gedachte Andrees des Metfläschchens, das sie bis dahin unberührt
gelassen hatten.--Als er den Stöpsel abgezogen, verbreitete sich ein
Duft, als seien die Tausende von Blumen noch einmal zur Blüte
auferstanden, aus deren Kelchen vor vielleicht mehr als hundert Jahren
die Bienen den Honig zu diesem Tranke zusammengetragen hatten.
Kaum hatten die Lippen des Mädchens den Rand der Flasche berührt,
so schlug sie schon die Augen auf. "Oh", rief sie, "auf welcher schönen
Wiese sind wir denn?"
"Auf keiner Wiese, Maren; aber trink nur, es wird dich stärken!"
Als sie getrunken hatte, richtete sie sich auf und schaute mit hellen
Augen um sich her. "Trink auch einmal, Andrees", sagte sie; "ein
Frauenzimmer ist doch nur ein elendiglich Geschöpf!"
"Aber das ist ein echter Tropfen!" rief Andrees, nachdem er auch
gekostet hatte. "Mag der Himmel wissen, woraus die Uhrahne den
gebraut hat!"
Dann gingen sie gestärkt und lustig plaudernd weiter. Nach einer Weile
aber blieb das Mädchen wieder stehen. "Was hast du, Maren?" fragte
Andrees.
"Oh, nichts, ich dachte nur--"

"Was denn, Maren?"
"Siehst du, Andrees! Mein Vater hat noch sein halbes Heu draußen auf
den Wiesen; und ich gehe da aus und will Regen machen!"
"Dein Vater ist ein reicher Mann, Maren; aber wir andern haben unser
Fetzchen Heu schon längst in der Scheuer und unsre Frucht noch alle
auf den dürren Halmen."
"Ja, ja, Andrees, du hast wohl recht; man muß auch an die andern
denken!" Im stillen bei sich selber aber setzte sie später hinzu: Maren,
Maren, mach dir keine Flausen vor; du tust ja doch alles nur von wegen
deinem Schatz!
So waren sie wieder eine Zeitlang fortgegangen, als das Mädchen
plötzlich rief: "Was ist denn das? Wo sind wir denn? Das ist ja ein
großer, ungeheurer Garten!"
Und wirklich waren sie, ohne zu wissen wie, aus der einförmigen
Weidenallee in einen großen Park gelangt. Aus der weiten, jetzt freilich
versengten Rasenfläche erhoben sich überall Gruppen hoher
prachtvoller Bäume. Zwar war ihr Laub zum Teil abgefallen oder hing
dürr
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