Die Leute von Seldwyla, vol 1 | Page 7

Gottfried Keller
Hand kommen. Das war eine
schöne Geschichte!" setzte er mit einem Seufzer hinzu.
In der Voraussicht, daß seine Leutchen, im Fall er sie noch lebendig
anträfe, jedenfalls nicht viel Kostbares im Hause hätten, hatte er in der

letzten größeren Stadt, wo er durchgereist, einen Korb guten Weines
eingekauft, sowie einen Korb mit verschiedenen guten Speisen, damit
in Seldwyla kein Gelaufe entstehen sollte und er in aller Stille mit der
Mutter und der Schwester ein Abendbrot einnehmen konnte. So
brauchte die Mutter nur den Tisch zu decken und Pankraz trug auf,
einige gebratene Hühner, eine herrliche Sülzpastete und ein Paket
feiner kleiner Kuchen; ja noch mehr! Auf dem Wege hatte er bedacht,
wie dunkel einst das armselige Tranlämpchen gebrannt und wie oft er
sich über die kümmerliche Beleuchtung geärgert, wobei er kaum seine
müßigen Siebensachen handhaben gekonnt, ungeachtet die Mutter, die
doch ältere Augen hatte, ihm immer das Lämpchen vor die Nase
geschoben, wiederum zum großen Ergötzen Estherchens, die bei jeder
Gelegenheit ihm die Leuchte wieder wegzupraktizieren verstanden.
Ach, einmal hatte er sie zornig weinend ausgelöscht, und als die Mutter
sie bekümmert wieder angezündet, blies sie Estherchen lachend wieder
aus, worauf er zerrissenen Herzens ins Bett gerannt. Dies und noch
anderes war ihm auf dem Wege eingefallen, und indem er schmerzlich
und bang kaum erleben mochte, ob er die Verlassenen wiedersehen
würde, hatte er auch noch einige Wachskerzen eingekauft, und zündete
jetzo zwei derselben an, so daß die Frauensleute sich nicht zu lassen
wußten vor Verwunderung ob all der Herrlichkeit.
Dergestalt ging es wie aus einer kleinen Hochzeit in dem Häuschen der
Witwe, nur viel stiller, und Pankraz benutzte das helle Licht der Kerzen,
die gealterten Gesichter seiner Mutter und Schwester zu sehen, und dies
Sehen rührte ihn stärker, als alle Gefahren, denen er ins Gesicht
geschaut. Er verfiel in ein tiefes trauriges Sinnen über die menschliche
Art und das menschliche Leben, und wie gerade unsere kleineren
Eigenschaften, eine freundliche oder herbe Gemütsart, nicht nur unser
Schicksal und Glück machen, sondern auch dasjenige der uns
Umgebenden und uns zu diesen in ein strenges Schuldverhältnis zu
bringen vermögen, ohne daß wir wissen wie es zugegangen, da wir uns
ja unser Gemüt nicht selbst gegeben. In diesen Betrachtungen ward er
jedoch gestört durch die Nachbarn, welche jetzt ihre Neugierde nicht
länger unterdrücken konnten und einer nach dem andern in die Stube
drangen, um das Wundertier zu sehen, da sich schon in der ganzen
Stadt das Gerücht verbreitet hatte, der verschollene Pankrazius sei
erschienen, und zwar als ein französischer General in einem

vierspännigen Wagen.
Dies war nun ein höchst verwickelter Fall für die in ihren
Vergnügungslokalen versammelten Seldwyler, sowohl für die Jungen
als wie für die Alten, und sie kratzten sich verdutzt hinter den Ohren.
Denn dies war gänzlich wider die Ordnung und wider den Strich zu
Seldwyl, daß da einer wie vom Himmel geschneit als ein gemachter
Mann und General herkommen sollte gerade in dem Alter, wo man zu
Seldwyl sonst fertig war. Was wollte der denn nun beginnen? Wollte er
wirklich am Orte bleiben, ohne ein Herabgekommener zu sein die
übrige Zeit seines Lebens hindurch, besonders wenn er etwa alt würde?
Und wie hatte er es angefangen? Was zum Teufel hatte der unbeachtete
und unscheinbare junge Mensch betrieben die lange Jugend hindurch,
ohne sich aufzubrauchen? Das war die Frage, die alle Gemüter bewegte,
und sie fanden durchaus keinen Schlüssel, das Rätsel zu lösen, weil
ihre Menschen- oder Seelenkunde zu klein war, um zu wissen, daß
gerade die herbe und bittere Gemütsart, welche ihm und seinen
Angehörigen so bittere Schmerzen bereitet, sein Wesen im übrigen
wohl konserviert, wie der scharfe Essig ein Stück Schöpfenfleisch, und
ihm über das gefährliche Seldwyler Glanzalter hinweggeholfen hatte.
Um die Frage zu lösen, stellte man überhaupt die Wahrheit des
Ereignisses in Frage und bestritt dessen Möglichkeit, und um diese
Auffassung zu bestätigen, wurden verschiedene alte Falliten nach dem
Plätzchen abgesandt, so daß Pankraz, dessen schon versammelte
Nachbarn ohnehin diesem Stande angehörten, sich von einer ganzen
Versammlung neugieriger und gemütlicher Falliten umgeben sah, wie
ein alter Heros in der Unterwelt von den herbeieilenden Schatten.
Er zündete nun seine türkische Pfeife an und erfüllte das Zimmer mit
dem fremden Wohlgeruch des morgenländischen Tabaks; die Schatten
oder Falliten witterten immer neugieriger in den blauen Duftwolken
umher, und Estherchen und die Mutter bestaunten unaufhörlich die
Leutseligkeit und Geschicklichkeit des Pankraz, mit welcher er die
Leute unterhielt, und zuletzt die freundliche, aber sichere Gewandtheit,
mit welcher er die Versammlung endlich entließ, als es ihm Zeit dazu
schien.
Da aber die Freuden, welche auf dem Familienglück und auf frohen
Ereignissen unter Blutsverwandten beruhen, auch nach den längsten
Leiden die Beteiligten plötzlich immer jung und munter machen, statt

sie zu erschöpfen, wie die Aufregungen der weitern Welt es tun, so
verspürte die alte Mutter noch nicht die geringste Müdigkeit und
Schlaflust, so wenig als ihre Kinder, und von
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