Die Leiden des jungen Werther, vol 2 | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
alle Verhältnisse
hinaussetzen zu dürfen, und was des Hundegeschwätzes mehr ist--da
möchte man sich ein Messer ins Herz bohren; denn man rede von
Selbständigkeit was man will, den will ich sehen, der dulden kann, daß
Schurken über ihn reden, wenn sie einen Vorteil über ihn haben; wenn
ihr Geschwätze leer ist, ach da kann man sie leicht lassen.
Am 16. März
Es hetzt mich alles. Heut' treff' ich die Fräulein B... in der Allee, ich
konnte mich nicht enthalten, sie anzureden und ihr, sobald wir etwas
entfernt von der Gesellschaft waren, meine Empfindlichkeit über ihr
neuliches Betragen zu zeigen.--"O Werther," sagte sie mit einem
innigen Tone, "konnten Sie meine Verwirrung so auslegen, da Sie mein
Herz kennen? Was ich gelitten habe um Ihretwillen, von dem
Augenblicke an, da ich in den Saal trat! Ich sah alles voraus,
hundertmal saß mir's auf der Zunge, es Ihnen zu sagen. Ich wußte, daß
die von S... und T... mit ihren Männern eher aufbrechen würden, als in
Ihrer Gesellschaft zu bleiben; ich wußte, daß der Graf es mit ihnen
nicht verderben darf,--und jetzt der Lärm!"--"wie, Fräulein?" sagt' ich
und verbarg meinen Schrecken; denn alles, was Adelin mir ehegestern
gesagt hatte, lief mir wie siedend Wasser durch die Adern in diesem
Augenblicke.--"Was hat mich es schon gekostet!" sagte das süße
Geschöpf, indem ihr die Tränen in den Augen standen. --Ich war nicht

Herr mehr von mir selbst, war im Begriffe, mich ihr zu Füßen zu
werfen.--"Erklären Sie sich!" rief ich.--Die Tränen liefen ihr die
Wangen herunter. Ich war außer mir. Sie trocknete sie ab, ohne sie
verbergen zu wollen.--"Meine Tante kennen Sie," fing sie an, "sie war
gegenwärtig und hat--o, mit was für Augen hat sie das angesehen!
Werther, ich habe gestern nacht ausgestanden und heute früh eine
Predigt über meinen Umgang mit Ihnen, und ich habe müssen zuhören
Sie herabsetzen, erniedrigen, und konnte und durfte Sie nur halb
verteidigen." Jedes Wort, das sie sprach, ging mir wie ein Schwert
durchs Herz. Sie fühlte nicht, welche Barmherzigkeit es gewesen wäre,
mir das alles zu verschweigen, und nun fügte sie noch hinzu, was
weiter würde geträtscht werden, was eine Art Menschen darüber
triumphieren würde.
Wie man sich nunmehr über die Strafe meines Übermuts und meiner
Geringschätzung anderer, die sie mir schon lange vorwerfen, kitzeln
und freuen würde. Das alles, Wilhelm, von ihr zu hören, mit der
Stimme der wahrsten Teilnehmung--ich war zerstört und bin noch
wütend in mir. Ich wollte, daß sich einer unterstünde, mir's
vorzuwerfen, daß ich ihm den Degen durch den Leib stoßen könnte;
wenn ich Blut sähe, würde mir's besser werden. Ach, ich hab'
hundertmal ein Messer ergriffen, um diesem gedrängten Herzen Luft zu
machen. Man erzählt von einer edlen Art Pferde, die, wenn sie
schrecklich erhitzt und aufgejagt sind, sich selbst aus Instinkt eine Ader
aufbeißen, um sich zum Atem zu helfen. So ist mir's oft, ich möchte
mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freiheit schaffte.

Am 24. März
Ich habe meine Entlassung vom Hofe verlangt und werde sie, hoffe ich,
erhalten, und ihr werdet mir verzeihen, daß ich nicht erst Erlaubnis
dazu bei euch geholt habe. Ich mußte nun einmal fort, und was ihr zu
sagen hattet, um mir das Bleiben einzureden, weiß ich alles, und
also--bringe das meiner Mutter in einem Säftchen bei, ich kann mir
selbst nicht helfen, und sie mag sich gefallen lassen, wenn ich ihr auch
nicht helfen kann. Freilich muß es ihr wehe tun. Den schönen Lauf, den
ihr Sohn gerade zum Geheimenrat und Gesandten ansetzte, so auf
einmal Halte zu sehen, und rückwärts mit dem Tierchen in den Stall!
Macht nun daraus, was ihr wollt, und kombiniert die möglichen Fälle,

unter denen ich hätte bleiben können und sollen; genug, ich gehe, und
damit ihr wißt, wo ich hinkomme, so ist hier der Fürst **, der vielen
Geschmack an meiner Gesellschaft findet; der hat mich gebeten, da er
von meiner Absicht hörte, mit ihm auf seine Güter zu gehen und den
schönen Frühling da zuzubringen. Ich soll ganz mir selbst gelassen sein,
hat er mir versprochen, und da wir uns zusammen bis auf einen
gewissen Punkt verstehn, so will ich es denn auf gut Glück wagen und
mit ihm gehen.

Zur Nachricht
Am 19. April
Danke für deine beiden Briefe. Ich antwortete nicht, weil ich dieses
Blatt liegen ließ, bis mein Abschied vom Hofe da wäre; ich fürchtete,
meine Mutter möchte sich an den Minister wenden und mir mein
Vorhaben erschweren. Nun aber ist es geschehen, mein Abschied ist da.
Ich mag euch nicht sagen, wie ungern man mir ihn gegeben hat, und
was mir der Minister schreibt--ihr würdet in neue Lamentationen
ausbrechen. Der Erbprinz hat mir zum Abschiede fünfundzwanzig
Dukaten geschickt, mit einem Wort, das mich bis zu Tränen gerührt hat;
also brauche ich von der Mutter das Geld nicht, um das ich
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