Die Leiden des jungen Werther, vol 2 | Page 7

Johann Wolfgang von Goethe
ist noch hier! Nun, so soll es bleiben! Und
warum nicht? Ich weiß, ich bin ja auch bei euch, bin dir unbeschadet in
Lottens Herzen, habe, ja ich habe den zweiten Platz darin und will und
muß ihn behalten. O ich würde rasend werden, wenn sie vergessen
könnte--Albert, in dem Gedanken liegt eine Hölle. Albert, leb' wohl!
Leb' wohl, Engel des Himmels! Leb' wohl, Lotte!
Den 15. März
Ich habe einen Verdruß gehabt, der mich von hier wegtreiben wird. Ich
knirsche mit den Zähnen! Teufel! Er ist nicht zu ersetzen, und ihr seid
doch allein schuld daran, die ihr mich sporntet und treibt und quältet,
mich in einen Posten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne war.
Nun habe ich's! Nun habt ihr's! Und daß du nicht wieder sagst, meine
überspannten Ideen verdürben alles, so hast du hier, lieber Herr, eine
Erzählung, plan und nett, wie ein Chronikenschreiber das aufzeichnen
würde.
Der Graf von C... liebt mich, distinguiert mich, das ist bekannt, das
habe ich dir schon hundertmal gesagt. Nun war ich gestern bei ihm zu
Tafel, eben an dem Tage, da abends die noble Gesellschaft von Herren
und Frauen bei ihm zusammenkommt, an die ich nie gedacht habe,
auch mir nie aufgefallen ist, daß wir Subalternen nicht hineingehören.

Gut. Ich speise bei dem Grafen, und nach Tische gehn wir in dem
großen Saal auf und ab, ich rede mit ihm, mit dem Obristen B..., der
dazu kommt, und so rückt die Stunde der Gesellschaft heran. Ich denke,
Gott weiß, an nichts. Da tritt herein die übergnädige Dame von S... mit
ihrem Herrn Gemahl und wohl ausgebrüteten Gänslein Tochter mit der
flachen Brust und niedlichem Schnürleibe, machen en passant ihre
hergebrachten, hochadeligen Augen und Naslöcher, und wie mir die
Nation von Herzen zuwider ist, wollte ich mich eben empfehlen und
wartete nur, bis der Graf vom garstigen Gewäsche frei wäre, als meine
Fräulein B. hereintrat. Da mir das Herz immer ein bißchen aufgeht,
wenn ich sie sehe, blieb ich eben, stellte mich hinter ihren Stuhl und
bemerkte erst nach einiger Zeit, daß sie mit weniger Offenheit als sonst,
mit einiger Verlegenheit mit mir redete. Das fiel mir auf. Ist sie auch
wie all das Volk, dacht' ich, und war angestochen und wollte gehen,
und doch blieb ich, weil ich sie gerne entschuldigt hätte und es nicht
glaubte und noch ein gut Wort von ihr hoffte und--was du willst.
Unterdessen füllte sich die Gesellschaft. Der Baron F. mit der ganzen
Garderobe von den Krönungszeiten Franz des Ersten her, der Hofrat
R..., hier aber in qualitate Herr von R... genannt, mit seiner tauben Frau
etc., den Übel fournierten J... nicht zu vergessen, der die Lücken seiner
altfränkischen Garderobe mit neumodischen Lappen ausflickt, das
kommt zu Hauf, und ich rede mit einigen meiner Bekanntschaft, die
alle sehr lakonisch sind. Ich dachte--und gab nur auf meine B... acht.
Ich merkte nicht, daß die Weiber am Ende des Saales sich in die Ohren
flüsterten, daß es auf die Männer zirkulierte, daß Frau von S. mit dem
Grafen redete (das alles hat mir Fräulein B. nachher erzählt), bis
endlich der Graf auf mich losging und mich in ein Fenster nahm.--"Sie
wissen", sagt' er, "unsere wunderbaren Verhältnisse; die Gesellschaft
ist unzufrieden, merkte ich, Sie hier zu sehn. Ich wollte nicht um
alles"--"Ihro Exzellenz," fiel ich ein, "ich bitte tausendmal um
Verzeihung; ich hätte eher dran denken sollen, und ich weiß, Sie
vergeben mir diese Inkonsequenz; ich wollte schon vorhin mich
empfehlen. Ein böser Genius hat mich zurückgehalten." Setzte ich
lächelnd hinzu, indem ich mich neigte. --Der Graf drückte meine
Hände mit einer Empfindung, die alles sagte. Ich strich mich sacht aus
der vornehmen Gesellschaft, ging, setzte mich in ein Kabriolett und
fuhr nach M., dort vom Hügel die Sonne untergehen zu sehen und

dabei in meinem Homer den herrlichen Gesang zu lesen, wie Ulyß von
dem trefflichen Schweinehirten bewirtet wird. Das war alles gut.
Des Abends komm' ich zurück zu Tische, es waren noch wenige in der
Gaststube; die würfelten auf einer Ecke, hatten das Tischtuch
zurückgeschlagen. Da kommt der ehrliche Adelin hinein, legt seinen
Hut nieder, indem er mich ansieht, tritt zu mir und sagt leise:"du hast
Verdruß gehabt?"--"Ich?" sagt' ich.--"Der Graf hat dich aus der
Gesellschaft gewiesen."--"Hol' sie der Teufel!" sagt' ich, "mir war's lieb,
daß ich in die freie Luft kam."--"Gut," sagt' er, "daß du's auf die leichte
Achsel nimmst. Nur verdrießt mich's, es ist schon überall herum."--Da
fing mich das Ding erst an zu wurmen. Alle, die zu Tisch kamen und
mich ansahen, dachte ich, die sehen dich darum an! Das gab böses Blut.
Und da man nun heute gar, wo ich hintrete, mich bedauert, da ich höre,
daß meine Neider nun triumphieren und sagen: da sähe man's, wo es
mit den Übermütigen hinausginge, die sich ihres bißchen Kopfs
überhöben und glaubten, sich darum über
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