Die Leiden des jungen Werther, vol 2 | Page 9

Johann Wolfgang von Goethe
neulich
schrieb.
Am 5. Mai
Morgen gehe ich von hier ab, und weil mein Geburtsort nur sechs
Meilen vom Wege liegt, so will ich den auch wiedersehen, will mich
der alten, glücklich verträumten Tage erinnern. Zu eben dem Tore will
ich hinein gehn, aus dem meine Mutter mit mir heraus fuhr, als sie nach
dem Tode meines Vaters den lieben, vertraulichen Ort verließ, um sich
in ihre unerträgliche Stadt einzusperren. Adieu, Wilhelm, du sollst von
meinem Zuge hören.

Am 9. Mai
Ich habe die Wallfahrt nach meiner Heimat mit aller Andacht eines
Pilgrims vollendet, und manche unerwarteten Gefühle haben mich
ergriffen. An der großen Linde, die eine Viertelstunde vor der Stadt
nach S... zu steht, ließ ich halten, stieg aus und hieß den Postillon
fortfahren, um zu Fuße jede Erinnerung ganz neu, lebhaft, nach

meinem Herzen zu kosten. Da stand ich nun unter der Linde, die
ehedem, als Knabe, das Ziel und die Grenze meiner Spaziergänge
gewesen. Wie anders! Damals sehnte ich mich in glücklicher
Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich für mein Herz so
viele Nahrung, so vielen Genuß hoffte, meinen strebenden, sehnenden
Busen auszufüllen und zu befriedigen. Jetzt komme ich zurück aus der
weiten Welt--o mein Freund, mit wie viel fehlgeschlagenen
Hoffnungen, mit wie viel zerstörten Planen!--Ich sah das Gebirge vor
mir liegen, das tausendmal der Gegenstand meiner Wünsche gewesen
war. Stundenlang konnt' ich hier sitzen und mich hinüber sehnen, mit
inniger Seele mich in den Wäldern, den Tälern verlieren, die sich
meinen Augen so freundlich-dämmernd darstellten; und wenn ich dann
um die bestimmte Zeit wieder zurück mußte, mit welchem Widerwillen
verließ ich nicht den lieben Platz!--Ich kam der Stadt näher, alle die
alten, bekannten Gartenhäuschen wurden von mir gegrüßt, die neuen
waren mir zuwider, so auch alle Veränderungen, die man sonst
vorgenommen hatte. Ich trat zum Tor hinein und fand mich doch gleich
und ganz wieder. Lieber, ich mag nicht ins Detail gehn; so reizend, als
es mir war, so einförmig würde es in der Erzählung werden. Ich hatte
beschlossen, auf dem Markte zu wohnen, gleich neben unserem alten
Haus. Im Hingehen bemerkte ich, daß die Schulstube, wo ein ehrliches
altes Weib unsere Kindheit zusammengepfercht hatte, in einen
Kramladen verwandelt war. Ich erinnere mich der Unruhe, der Tränen,
der Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangst, die ich in dem Loche
ausgestanden hatte.--Ich tat keinen Schritt, der nicht merkwürdig war.
Ein Pilger im heiligen Lande trifft nicht so viele Stätten religiöser
Erinnerungen an, und seine Seele ist schwerlich so voll heiliger
Bewegung.--Noch eins für tausend. Ich ging den Fluß hinab, bis an
einen gewissen Hof; das war sonst auch mein Weg, und die Plätzchen,
wo wir Knaben uns übten, die meisten Sprünge der flachen Steine im
Wasser hervorzubringen. Ich erinnerte mich so lebhaft, wenn ich
manchmal stand und dem Wasser nachsah, mit wie wunderbaren
Ahnungen ich es verfolgte, wie abenteuerlich ich mir die Gegenden
vorstellte, wo es nun hinflösse, und wie ich da sobald Grenzen meiner
Vorstellungskraft fand; und doch mußte das weiter gehen, immer
weiter, bis ich mich ganz in dem Anschauen einer unsichtbaren Ferne
verlor. --Sieh, mein Lieber, so beschränkt und so glücklich waren die

herrlichen Altväter! So kindlich ihr Gefühl, ihre Dichtung! Wenn ulyß
von dem ungemeßnen Meer und von der unendlichen Erde spricht, das
ist so wahr, menschlich, innig, eng und geheimnisvoll. Was hilft mich's,
daß ich jetzt mit jedem Schulknaben nachsagen kann, daß sie rund sei?
Der Mensch braucht nur wenige Erdschollen, um drauf zu genießen,
weniger, um drunter zu ruhen. Nun bin ich hier, auf dem fürstlichen
Jagdschloß. Es läßt sich noch ganz wohl mit dem Herrn leben, er ist
wahr und einfach. Wunderliche Menschen sind um ihn herum, die ich
gar nicht begreife. Sie scheinen keine Schelmen und haben doch auch
nicht das Ansehen von ehrlichen Leuten. Manchmal kommen sie mir
ehrlich vor, und ich kann ihnen doch nicht trauen. Was mir noch leid
tut, ist, daß er oft von Sachen redet, die er nur gehört und gelesen hat,
und zwar aus eben dem Gesichtspunkte, wie sie ihm der andere
vorstellen mochte. Auch schätzt er meinen Verstand und meine Talente
mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das ganz und alles
Elendes. Ach, was ich weiß, kann jeder wissen--mein Herz habe ich
allein.
Am 25. Mai
Ich hatte etwas im Kopfe, davon ich euch nichts sagen wollte, bis es
ausgeführt wäre: jetzt, da nichts draus wird, ist es ebenso gut. Ich
wollte in den Krieg; das hat mir lange am Herzen gelegen.
Vornehmlich darum bin ich dem Fürsten hierher gefolgt, der General in
***schen Diensten ist. Auf einem Spaziergang entdeckte ich ihm mein
Vorhaben; er widerriet mir es, und es müßte bei mir mehr Leidenschaft
als Grille gewesen sein, wenn ich seinen Gründen nicht hätte Gehör
geben wollen.
Am 11. Junius
Sage was du willst, ich kann nicht
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