Die Leiden des jungen Werther, vol 2 | Page 6

Johann Wolfgang von Goethe
So heilig, so warm! Guter
Gott! Der erste glückliche Augenblick wieder.
Wenn Sie mich sähen, meine Beste, in dem Schwall von Zerstreuung!
Wie ausgetrocknet meine Sinne werden! Nicht einen Augenblick der
Fülle des Herzens, nicht eine selige Stunde! Nichts! Nichts! Ich stehe
wie vor einem Raritätenkasten und sehe die Männchen und Gäulchen
vor mir herumrücken, und frage mich oft, ob es nicht optischer Betrug
ist. Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine Marionette und
fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere
zurück. Des Abends nehme ich mir vor, den Sonnenaufgang zu
genießen, und komme nicht aus dem Bette; am Tage hoffe ich, mich
des Mondscheins zu erfreuen, und bleibe in meiner Stube. Ich weiß
nicht recht, warum ich aufstehe, warum ich schlafen gehe.
Der Sauerteig, der mein Leben in Bewegung setzte, fehlt; der Reiz, der
mich in tiefen Nächten munter erhielt, ist hin, der mich des Morgens
aus dem Schlafe weckte, ist weg.
Ein einzig weibliches Geschöpf habe ich hier gefunden, eine Fräulein
von B..., sie gleicht Ihnen, liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen kann."
"Ei!" werden Sie sagen, "der Mensch legt sich auf niedliche
Komplimente!" ganz unwahr ist es nicht. Seit einiger Zeit bin ich sehr
artig, weil ich doch nicht anders sein kann, habe viel Witz, und die
Frauenzimmer sagen, es wüßte niemand so fein zu loben als ich (und zu
lügen, setzen Sie hinzu, denn ohne das geht es nicht ab, verstehen Sie?).
Ich wollte von Fräulein B... reden. Sie hat viel Seele, die voll aus ihren

blauen Augen hervorblickt. Ihr Stand ist ihr zur Last, der keinen der
Wünsche ihres Herzens befriedigt. Sie sehnt sich aus dem Getümmel,
und wir verphantasieren manche Stunde in ländlichen Szenen von
ungemischter Glückseligkeit; ach! und von Ihnen! Wie oft muß sie
Ihnen huldigen, muß nicht, tut es freiwillig, hört so gern von Ihnen,
liebt Sie.--O säß' ich zu Ihren Füßen in dem lieben, vertraulichen
Zimmerchen, und unsere kleinen Lieben wälzten sich mit einander um
mich herum, und wenn sie Ihnen zu laut würden, wollte ich sie mit
einem schauerlichen Märchen um mich zur Ruhe versammeln.
Die Sonne geht herrlich unter über der schneeglänzenden Gegend, der
Sturm ist hinüber gezogen, und ich--muß mich wieder in meinen Käfig
sperren.--Adieu! Ist Albert bei Ihnen? Und wie--? Gott verzeihe mir
diese Frage!
Den 8. Februar
Wir haben seit acht Tagen das abscheulichste Wetter, und mir ist es
wohltätig. Denn so lang ich hier bin, ist mir noch kein schöner Tag am
Himmel erschienen, den mir nicht jemand verdorben oder verleidet
hätte. Wenn's nun recht regnet und stöbert und fröstelt und taut: ha!
Denk' ich, kann's doch zu Hause nicht schlimmer werden, als es
draußen ist, oder umgekehrt, und so ist's gut. Geht die Sonne des
Morgens auf und verspricht einen feinen Tag, erwehr' ich mir niemals
auszurufen: da haben sie doch wieder ein himmlisches Gut, worum sie
einander bringen können! Es ist nichts, worum sie einander nicht
bringen. Gesundheit, guter Name, Freudigkeit, Erholung! Und meist
aus Albernheit, Unbegriff und Enge und, wenn man sie anhört, mit der
besten Meinung. Manchmal möcht' ich sie auf den Knieen bitten, nicht
so rasend in ihre eigenen Eingeweide zu wüten.
Am 17. Februar
Ich fürchte, mein Gesandter und ich halten es zusammen nicht mehr
lange aus. Der Mann ist ganz und gar unerträglich. Seine Art zu
arbeiten und Geschäfte zu treiben ist so lächerlich, daß ich mich nicht
enthalten kann, ihm zu widersprechen und oft eine Sache nach meinem
Kopf und meiner Art zu machen, das ihm denn, wie natürlich, niemals
recht ist. Darüber hat er mich neulich bei Hofe verklagt, und der
Minister gab mir einen zwar sanften Verweis, aber es war doch ein
Verweis, und ich stand im Begriffe, meinen Abschied zu begehren, als
ich einen Privatbrief von ihm erhielt, einen Brief, vor dem ich

niedergekniet, und den hohen, edlen, weisen Sinn angebetet habe. Wie
er meine allzu große Empfindlichkeit zurechtweiset, wie er meine
überspannten Ideen von Wirksamkeit, von Einfluß auf andere, von
Durchdringen in Geschäften als jugendlichen guten Mut zwar ehrt, sie
nicht auszurotten, nur zu mildern und dahin zu leiten sucht, wo sie ihr
wahres Spiel haben, ihre kräftige Wirkung tun können. Auch bin ich
auf acht Tage gestärkt und in mir selbst einig geworden. Die Ruhe der
Seele ist ein herrliches Ding und die Freude an sich selbst. Lieber
Freund, wenn nur das Kleinod nicht eben so zerbrechlich wäre, als es
schön und kostbar ist.
Am 20. Februar
Gott segne euch, meine Lieben, geb' euch alle die guten Tage, die er
mir abzieht!
Ich danke dir, Albert, daß du mich betrogen hast: ich wartete auf
Nachricht, wann euer Hochzeitstag sein würde, und hatte mir
vorgenommen, feierlichst an demselben Lottens Schattenriß von der
Wand zu nehmen und ihn unter andere Papiere zu begraben. Nun seid
ihr ein Paar, und ihr Bild
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