man an den Deich. Und war man den Deich
hinangestiegen, so blickte man in die Niederung der Elbe, in der
Weiden an schmalen Wasserprielen wuchsen und wilde Enten flogen.
Ganz hinten, ein silbergraues Band, sah man den Fluß. Große Schiffe
fuhren auf ihm zu Tal, gespenstisch wie Phantome, und in der Ferne,
meilenweit, ahnte man das Meer.
Pfingsten stand bevor; es fiel in die zweite Juniwoche. Ich wollte das
Fest noch auf Carnin verleben, dann wollte ich Abschied nehmen von
diesem einsamen Haus, von diesem Park und diesen Menschen, die mir
teuer waren. Ich hatte mancherlei auf Carnin gemalt. Der Graf war
kunstliebend und zeichnete mit Geschmack. Wir saßen oft vor den
gleichen Motiven, ich malte und er zeichnete. Die Gräfin, scheinbar
jünger als ihre Jahre, war musikalisch. Nicht selten, wenn ich im Park
saß, drangen ihre Melodien herüber: sie spielte Klavier und sang mit
einer seelisch bewegten Stimme. Zuweilen sang sie auch kleine Lieder
zur Laute, abends, wenn wir auf der Terrasse saßen. Tagsüber widmete
sie sich ihren Kindern. Die älteste Tochter, Komteß Anna, war siebzehn
Jahre alt und schien eher die Schwester der Gräfin zu sein. Auch
äußerlich ähnelte sie der Mutter, nur daß sie größer war. Ja, wenn die
beiden schlanken Gestalten Arm in Arm durch den Garten gingen, und
man sah sie von weitem, so hätte man schwören mögen, daß sie
Schwestern seien.
Dann kam ein dreizehnjähriges Komteßlein namens Charlotte, ein
ernstes Kind mit zarten Gliedern und einem regen Geist. Sie machte
Verse und schrieb sie in ein rosaseidenes Buch, sie ging oft allein und
nachdenklich unter den Bäumen des Parkes oder fuhr in der Gondel,
Blumen im Schoß, und man hörte dann, wenn man in der Nähe
vorüberging, wie sie sang. Sie war ein reich und fast zu frühe
entwickeltes Kind, und ihre träumerischen Augen waren oft weit
entfernt, in heimlichen Regionen der Wünsche und der Gedanken. Sie
hatte Tage, an denen sie sich müde fühlte und bleich aussah, und
gerade an solchen Tagen trieb es sie, ihre Verslein zu dichten und sich
einsamen Gedanken hinzugeben. Wir hatten Freundschaft geschlossen
und wandelten häufig zusammen die Lindenallee hinunter in die Felder,
pflückten Feldblumen und sahen den Flügeln der Mühle zu, die, wenn
man näher kam, unheimlich durch die Luft rauschten und knarrten, so
daß man, wenn es gerade dämmerte, Angst verspürte und am liebsten
schnell davongelaufen wäre.
Ferner gab es zwei Buben von acht und zehn Jahren, Fred und Klaus,
zu allen tollen Streichen aufgelegt, zu denen sie nicht selten auch mich
zu verführen suchten. Sie wurden von einem Hauslehrer unterrichtet,
einem jungen blauäugigen Theologen aus Husum. Außerdem war eine
Gouvernante da, ein gescheites Wesen, das mehr zu beobachten als
mitzuerleben liebte. Das waren die Menschen auf Schloß Carnin.
Ich hatte die blonde Charlotte gemalt, wie sie auf einer Bank unter
einer blühenden Kastanie saß, dicht neben dem Schloßgraben, über den
eine weiße Brücke führte. Ich hatte die beiden Jungen gemalt, wie sie
im Grase lagen. Und in der Dämmerung hatte ich das Schloß gemalt,
als ein graues, mystisches, weltentlegenes Haus, mit den weißen,
geheimnisvollen Gestalten der Gräfin und der Komteß Anna auf der
Terrasse. Dies Bild schien mir das beste zu sein, das ich auf Carnin
gemacht hatte. Es hatte etwas Mystisches, die Luft der Dämmerung war
weich und lau, man spürte den Frühling darin.
Nun kam Pfingsten. Komteß Anna erwartete den Besuch einer
Freundin, der Graf den eines jungen Freundes, eines Assessors aus der
Kreisstadt. Zwei Tage vor dem Fest kamen die beiden an. Die Komteß
war ihrer Freundin bis zur Eisenbahnstation entgegengefahren. Es war
gegen Abend, ich hatte bei Tag im Sonnenlicht gemalt, nun schlenderte
ich mit Charlotte durch den Park, dann durch die Felder, wo wir im
Westen die Glut des Himmels anstaunten, in der ungeheure goldene
Wolken schwammen. Charlotte hatte ein leichtes Sommerkleid an, das
die dünnen Ärmchen freiließ. Die Luft war schwül und windstill, und
der gelbe Raps duftete verschwenderisch. Wir gingen schweigend. Da
fuhr die Kleine plötzlich auf, wies zur Landstraße hinüber und rief:
»Sie kommen!«
Man sah den Jagdwagen mit den Schimmeln, eine Staubwolke
schwebte hinter ihm. Charlotte und ich faßten uns bei der Hand und
liefen zur Landstraße hinüber. Dort pflanzten wir uns auf und winkten
mit den Taschentüchern, während der Wagen vorüberfuhr. Auch
Komteß Anna winkte und die Freundin und der Assessor. Die Freundin
war schwarzhaarig, sie hatte schöne, freie Augen und einen ernsten
Mund. Es war etwas Sicheres und Feines an ihr, eine bezaubernde
Anmut. Ich sah sie gleich als Bild in meiner Vorstellung. Ein feines
Kind, dachte ich, das wäre etwas für deinen Pinsel, Tedrahn!
Ich schlenderte mit Charlotte zum Schloß zurück. Wir hatten den
Wagen so lange vor uns, bis er in die Lindenallee einbog. Charlotte
hatte unterwegs Blumen gepflückt, sie gab mir davon ab, als ich auf
mein Zimmer ging, um mich zum Essen
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