Die Geburt der Tragödie | Page 4

Friedrich Wilhelm Nietzsche
heisst unbedingten Moral) muss das Leben best?ndig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist, - muss endlich das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Nein's, als begehrens-unwürdig, als unwerth an sich empfunden werden. Moral selbst - wie? sollte Moral nicht ein "Wille zur Verneinung des Lebens", ein heimlicher Instinkt der Vernichtung, ein Verfalls-, Verkleinerungs-, Verleumdungsprincip, ein Anfang vom Ende sein? Und, folglich, die Gefahr der Gefahren?... Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grunds?tzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit - denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist? - auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hiess sie die dionysische. -
6.
Man versteht, an welche Aufgabe ich bereits mit diesem Buche zu rühren wagte?... Wie sehr bedauere ich es jetzt, dass ich damals noch nicht den Muth (oder die Unbescheidenheit?) hatte, um mir in jedem Betrachte für so eigne Anschauungen und Wagnisse auch eine eigne Sprache zu erlauben, - dass ich mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthsch?tzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen giengen! Wie dachte doch Schopenhauer über die Trag?die? "Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt - sagt er, Welt als Wille und Vorstellung II, 495 - ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genügen geben k?nne, mithin unsrer Anh?nglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist -, er leitet demnach zur Resignation hin". Oh wie anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser ganze Resignationismus! - Aber es giebt etwas viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, als mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und verdorben zu haben: dass ich mir n?mlich überhaupt das grandiose griechische Problem, wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge verdarb! Dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies! Dass ich, auf Grund der deutschen letzten Musik, vom "deutschen Wesen" zu fabeln begann, wie als ob es eben im Begriff sei, sich selbst zu entdecken und wiederzufinden - und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor Langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europa's gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs- Begründung, seinen Uebergang zur Vermittelm?ssigung, zur Demokratie und den "modernen Ideen" machte! In der That, inzwischen lernte ich hoffnungslos und schonungslos genug von diesem "deutschen Wesen" denken, insgleichen von der jetzigen deutschen Musik, als welche Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller m?glichen Kunstformen: überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges, doppelt gef?hrlich, bei einem Volke, das den Trunk liebt und die Unklarheit als Tugend ehrt, n?mlich in ihrer doppelten Eigenschaft als berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum. - Abseits freilich von allen übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenw?rtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das grosse dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in Betreff der Musik, fort und fort bestehen: wie müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs w?re, gleich der deutschen, - sondern dionysischen? . . .
7.
- Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht Ihr Buch Romantik ist? L?sst sich der tiefe Hass gegen "Jetztzeit", "Wirklichkeit" und "moderne Ideen" weiter treiben, als es in Ihrer Artisten-Metaphysik geschehen ist? - welche lieber noch an das Nichts, lieber noch an den Teufel, als an das "Jetzt" glaubt? Brummt nicht ein Grundbass von Zorn und Vernichtungslust unter aller Ihrer contrapunktischen Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei hinweg, eine wüthende Entschlossenheit gegen Alles, was "jetzt" ist, ein Wille, welcher nicht gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist und zu sagen scheint "lieber mag Nichts wahr sein, als dass ihr Recht h?ttet, als dass eure Wahrheit Recht behielte!" H?ren Sie selbst, mein Herr Pessimist und Kunstverg?ttlicher, mit aufgeschlossnerem Ohre eine einzige ausgew?hlte Stelle Ihres Buches an, jene nicht unberedte Drachent?dter-Stelle, welche für junge Ohren und Herzen verf?nglich rattenf?ngerisch klingen mag: wie? ist das nicht das ?chte rechte Romantiker-Bekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850 hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finale pr?ludirt, - Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten Glauben, vor dem alten Gotte . . . Wie? ist Ihr Pessimisten-Buch nicht selbst ein Stück Antigriechenthum und Romantik, selbst etwas "ebenso Berauschendes als Benebelndes", ein Narkotikum jedenfalls, ein Stück Musik sogar, deutscher Musik? Aber man h?re:
"Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in's Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt
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