Die Geburt der Tragödie | Page 3

Friedrich Wilhelm Nietzsche
vielleicht nicht nothwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der übersp?ten Cultur? Giebt es vielleicht - eine Frage für Irren?rzte - Neurosen der Gesundheit? der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit? Worauf weist jene Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus welchem Selbsterlebniss, auf welchen Drang hin musste sich der Grieche den dionysischen Schw?rmer und Urmenschen als Satyr denken? Und was den Ursprung des tragischen Chors betrifft: gab es in jenen Jahrhunderten, wo der griechische Leib blühte, die griechische Seele von Leben übersch?umte, vielleicht endemische Entzückungen? Visionen und Hallucinationen, welche sich ganzen Gemeinden, ganzen Cultversammlungen mittheilten? Wie? wenn die Griechen, gerade im Reichthum ihrer Jugend, den Willen zum Tragischen hatten und Pessimisten waren? wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein Wort Plato's zu gebrauchen, der die gr?ssten Segnungen über Hellas gebracht hat? Und wenn, andererseits und umgekehrt, die Griechen gerade in den Zeiten ihrer Aufl?sung und Schw?che, immer optimistischer, oberfl?chlicher, schauspielerischer, auch nach Logik und Logisirung der Welt brünstiger, also zugleich "heiterer" und "wissenschaftlicher" wurden? Wie? k?nnte vielleicht, allen "modernen Ideen" und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist, - ein Symptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein? Und gerade nicht - der Pessimismus? War Epikur ein Optimist - gerade als Leidender? - - Man sieht, es ist ein ganzes Bündel schwerer Fragen, mit dem sich dieses Buch belastet hat, - fügen wir seine schwerste Frage noch hinzu! Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn, - die Moral? . . .
5.
Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst - und nicht die Moral - als die eigentlich metaphysische Th?tigkeit des Menschen hingestellt; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wieder, dass nur als ?sthetisches Ph?nomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist. In der That, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und - Hintersinn hinter allem Geschehen, - einen "Gott", wenn man will, aber gewiss nur einen g?nzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerst?ren, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden will, der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle und Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedr?ngten Gegens?tze l?st. Die Welt, in jedem Augenblicke die erreichte Erl?sung Gottes, als die ewig wechselnde, ewig neue Vision des Leidendsten, Gegens?tzlichsten, Widerspruchreichsten, der nur im Scheine sich zu erl?sen weiss: diese ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müssig, phantastisch nennen -, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist verr?th, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird. Hier kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus "jenseits von Gut und B?se" an, hier kommt jene "Perversit?t der Gesinnung" zu Wort und Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist, im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern, - eine Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt der Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die "Erscheinungen" (im Sinne des idealistischen terminus technicus), sondern unter die "T?uschungen", als Schein, Wahn, Irrthum, Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst. Vielleicht l?sst sich die Tiefe dieses widermoralischen Hanges am besten aus dem behutsamen und feindseligen Schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen Buche das Christenthum behandelt ist, - das Christenthum als die ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema's, welche die Menschheit bisher anzuh?ren bekommen hat. In Wahrheit, es giebt zu der rein ?sthetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie in diesem Buche gelehrt wird, keinen gr?sseren Gegensatz als die christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will und mit ihren absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes, die Kunst, jede Kunst in's Reich der Lüge verweist, - das heisst verneint, verdammt, verurtheilt. Hinter einer derartigen Denk- und Werthungsweise, welche kunstfeindlich sein muss, so lange sie irgendwie ?cht ist, empfand ich von jeher auch das Lebensfeindliche, den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, T?uschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums. Christenthum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein "anderes" oder "besseres" Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die "Welt", der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Sch?nheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen in's Nichts, an's Ende, in's Ausruhen, hin zum "Sabbat der Sabbate" - dies Alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille des Christenthums, nur moralische Werthe gelten zu lassen, immer wie die gef?hrlichste und unheimlichste Form aller m?glichen Formen eines "Willens zum Untergang", zum Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit, Ersch?pfung, Verarmung an Leben, - denn vor der Moral (in Sonderheit christlichen, das
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