Die Aufzeichnungen des Malte Laurid Brigge | Page 8

Rainer Maria Rilke
gut wie nichts geschehen. Wiederholen wir: ich habe eine Studie ��ber Carpaccio geschrieben, die schlecht ist, ein Drama, das 'Ehe' hei?t und etwas Falsches mit zweideutigen Mitteln beweisen will, und Verse. Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie fr��h schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und S��?igkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes wom?glich, und dann, ganz zum Schlu?, vielleicht k?nnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gef��hle (die hat man fr��h genug),--es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen mu? man viele St?dte sehen, Menschen und Dinge, man mu? die Tiere kennen, man mu? f��hlen, wie die V?gel fliegen, und die Geb?rde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man mu? zur��ckdenken k?nnen an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah,--an Kindheitstage, die noch unaufgekl?rt sind, an die Eltern, die man kr?nken mu?te, wenn sie einem eine Freude brachten und man begriff sie nicht (es war eine Freude f��r einen anderen--), an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer ��berhaupt, an Meere, an Reisen?chte, die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen, --und es ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man mu? Erinnerungen haben an viele Liebesn?chte, von denen keine der andern glich, an Schreie von Krei?enden und an leichte, wei?e, schlafende W?chnerinnen, die sich schlie?en. Aber auch bei Sterbenden mu? man gewesen sein, mu? bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den sto?weisen Ger?uschen. Und es gen��gt auch noch nicht, da? man Erinnerungen hat. Man mu? sie vergessen k?nnen, wenn es viele sind, und man mu? die gro?e Geduld haben, zu warten, da? sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbstes noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Geb?rde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, da? in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.
Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also sind es keine.--Und als ich mein Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich ein Nachahmer und Narr, da? ich eines Dritten bedurfte, um von dem Schicksal zweier Menschen zu erz?hlen, die es einander schwer machten? Wie leicht ich in die Falle fiel. Und ich h?tte doch wissen m��ssen, da? dieser Dritte, der durch alle Leben und Literaturen geht, dieses Gespenst eines Dritten, der nie gewesen ist, keine Bedeutung hat, da? man ihn leugnen mu?. Er geh?rt zu den Vorw?nden der Natur, welche immer bem��ht ist, von ihren tiefsten Geheimnissen die Aufmerksamkeit der Menschen abzulenken. Er ist der Wandschirm, hinter dem ein Drama sich abspielt. Er ist der L?rm am Eingang zu der stimmlosen Stille eines wirklichen Konfliktes. Man m?chte meinen, es w?re allen bisher zu schwer gewesen, von den Zweien zu reden, um die es sich handelt; der Dritte, gerade weil er so unwirklich ist, ist das Leichte der Aufgabe, ihn konnten sie alle. Gleich am Anfang ihrer Dramen merkt man die Ungeduld, zu dem Dritten zu kommen, sie k?nnten ihn kaum erwarten. Sowie er da ist, ist alles gut. Aber wie langweilig, wenn er sich versp?tet, es kann rein nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt, wartet. Ja und wie, wenn es bei diesem Stauen und Anstehn bliebe? Wie, Herr Dramatiker, und du, Publikum, welches das Leben kennt, wie, wenn er verschollen w?re, dieser beliebte Lebemann oder dieser anma?ende junge Mensch, der in allen Ehen schlie?t wie ein Nachschl��ssel? Wie, wenn ihn, zum Beispiel, der Teufel geholt h?tte? Nehmen wirs an. Man merkt auf einmal die k��nstliche Leere der Theater, sie werden vermauert wie gef?hrliche L?cher, nur die Motten aus den Logenr?ndern taumeln durch den haltlosen Hohlraum. Die Dramatiker genie?en nicht mehr ihre Villenviertel. Alle ?ffentlichen Aufpassereien suchen f��r sie in entlegenen Weltteilen nach dem Unersetzlichen, der die Handlung selbst war.
Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese 'Dritten', aber die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen w?re, von denen noch nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie leiden und handeln und sich nicht zu helfen wissen.
Es ist l?cherlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand wei?. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts f?ngt an zu denken und denkt, f��nf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken:
Ist es m?glich, denkt es, da? man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es m?glich, da? man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und da? man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause,
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