Die Aufzeichnungen des Malte Laurid Brigge | Page 9

Rainer Maria Rilke
in der man sein Butterbrot i?t und einen Apfel?
Ja, es ist m?glich.
Ist es m?glich, da? man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfl?che des Lebens geblieben ist? Ist es m?glich, da? man sogar diese Oberfl?che, die doch immerhin etwas gewesen w?re, mit einem unglaublich langweiligen Stoff ��berzogen hat, so da? sie aussieht, wie die Salonm?bel in den Sommerferien?
Ja, es ist m?glich.
Ist es m?glich, da? die ganze Weltgeschichte mi?verstanden worden ist? Ist es m?glich, da? die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler Menschen erz?hlte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?
Ja, es ist m?glich.
Ist es m?glich, da? man glaubte, nachholen zu m��ssen, was sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es m?glich, da? man jeden einzelnen erinnern m��?te, er sei ja aus allen Fr��heren entstanden, w��?te es also und sollte sich nichts einreden lassen von den anderen, die anderes w��?ten?
Ja, es ist m?glich.
Ist es m?glich, da? alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es m?glich, da? alle Wirklichkeiten nichts sind f��r sie; da? ihr Leben abl?uft, mit nichts verkn��pft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer--?
Ja, es ist m?glich.
Ist es m?glich, da? man von den M?dchen nichts wei?, die doch leben? Ist es m?glich, da? man 'die Frauen' sagt, 'die Kinder', 'die Knaben' und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), da? diese Worte l?ngst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unz?hlige Einzahlen?
Ja, es ist m?glich.
Ist es m?glich, da? es Leute giebt, welche 'Gott' sagen und meinen, das w?re etwas Gemeinsames?--Und sieh nur zwei Schulkinder: Es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, da? sie sich nur noch ganz entfernt ?hnlich sehen,--so verschieden haben sie sich in verschiedenen H?nden entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen m��?t.--) Ach so: Ist es m?glich, zu glauben, man k?nne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?
Ja, es ist m?glich.
Wenn aber dieses alles m?glich ist, auch nur einen Schein von M?glichkeit hat,--dann mu? ja, um alles in der Welt, etwas geschehen. Der N?chstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, mu? anfangen, etwas von dem Vers?umten zu tun; wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da. Dieser junge, belanglose Ausl?nder, Brigge, wird sich f��nf Treppen hoch hinsetzen m��ssen und schreiben, Tag und Nacht. Ja er wird schreiben m��ssen, das wird das Ende sein.
Zw?lf Jahre oder h?chstens dreizehn mu? ich damals gewesen sein. Mein Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen. Ich wei? nicht, was ihn veranla?te, seinen Schwiegervater aufzusuchen. Die beiden M?nner hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter, nicht gesehen, und mein Vater selbst war noch nie in dem alten Schlosse gewesen, in welches der Graf Brahe sich erst sp?t zur��ckgezogen hatte. Ich habe das merkw��rdige Haus sp?ter nie wiedergesehen, das, als mein Gro?vater starb, in fremde H?nde kam. So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Geb?ude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein St��ck Gang, das diese beiden R?ume nicht verbindet, sondern f��r sich, als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut,--die Zimmer, die Treppen, die mit so gro?er Umst?ndlichkeit sich niederlie?en, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgeh?ngten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen T��r hinausgedr?ngt wurde:--alles das ist noch in mir und wird nie aufh?ren, in mir zu sein. Es ist, als w?re das Bild dieses Hauses aus unendlicher H?he in mich hineingest��rzt und auf meinem Grunde zerschlagen.
Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich erinnere mich nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin sie aussahen; jedes mal, so oft die Familie eintrat, brannten die Kerzen in den schweren Armleuchtern, und man verga? in einigen Minuten die Tageszeit und alles, was man drau?en gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich vermute, gew?lbte Raum war st?rker als alles; er saugte mit seiner dunkelnden H?he, mit seinen niemals ganz aufgekl?rten Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz daf��r zu geben. Man sa? da wie aufgel?st; v?llig ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle. Ich erinnere mich, da? dieser vernichtende Zustand mir zuerst fast ��belkeit verursachte, eine Art Seekrankheit, die ich nur dadurch ��berwand, da?
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 76
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.