Die Aufzeichnungen des Malte Laurid Brigge | Page 6

Rainer Maria Rilke
auf dessen gemalter Platte die Sèvrestassen
zitterten.
Ja, es war für diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge eine
schreckliche Zeit. Es passierte, daß aus Büchern, die irgendeine hastige
Hand ungeschickt geöffnet hatte, Rosenblätter heraustaumelten, die
zertreten wurden; kleine, schwächliche Gegenstände wurden ergriffen
und, nachdem sie sofort zerbrochen waren, schnell wieder hingelegt,
manches Verbogene auch unter Vorhänge gesteckt oder gar hinter das
goldene Netz des Kamingitters geworfen. Und von Zeit zu Zeit fiel
etwas, fiel verhüllt auf Teppich, fiel hell auf das harte Parkett, aber es
zerschlug da und dort, zersprang scharf oder brach fast lautlos auf, denn
diese Dinge, verwöhnt wie sie waren, vertrugen keinerlei Fall.
Und wäre es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache von
alledem sei, was über dieses ängstlich gehütete Zimmer alles
Untergangs Fülle herabgerufen habe,--so hätte es nur eine Antwort
gegeben: der Tod.
Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard.
Denn dieser lag, groß über seine dunkelblaue Uniform hinausquellend,
mitten auf dem Fußboden und rührte sich nicht. In seinem großen,
fremden, niemandem mehr bekannten Gesicht waren die Augen
zugefallen: er sah nicht, was geschah. Man hatte zuerst versucht, ihn
auf das Bett zu legen, aber er hatte sich dagegen gewehrt, denn er haßte
Betten seit jenen ersten Nächten, in denen seine Krankheit gewachsen
war. Auch hatte sich das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war
nichts anderes übrig geblieben, als ihn so auf den Teppich zu legen;
denn hinunter hatte er nicht gewollt.
Da lag er nun, und man konnte denken, daß er gestorben sei. Die
Hunde hatten sich, da es langsam zu dämmern begann, einer nach dem

anderen durch die Türspalte gezogen, nur der Harthaarige mit dem
mürrischen Gesicht saß bei seinem Herrn, und eine von seinen breiten,
zottigen Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs großer, grauer Hand.
Auch von der Dienerschaft standen jetzt die meisten draußen in dem
weißen Gang, der heller war als das Zimmer; die aber, welche noch
drinnen geblieben waren, sahen manchmal heimlich nach dem großen,
dunkelnden Haufen in der Mitte, und sie wünschten, daß das nichts
mehr wäre als ein großer Anzug über einem verdorbenen Ding.
Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die noch vor
sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die Stimme
des Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem diese
Stimme gehörte, es war Christoph Detlevs Tod.
Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen auf
Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu
werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon,
verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, daß man lache,
spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde zu
sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu sterben:
verlangte. Verlangte und schrie.
Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den übermüden
Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, einzuschlafen versuchten,
dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stöhnte, brüllte so lange
und anhaltend, daß die Hunde, die zuerst mitheulten, verstummten und
nicht wagten sich hinzulegen und, auf ihren langen, schlanken,
zitternden Beinen stehend, sich fürchteten. Und wenn sie es durch die
weite, silberne, dänische Sommernacht im Dorfe hörten, daß er brüllte,
so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten sich an und blieben
ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es vorüber war. Und die
Frauen, welche nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in die
entlegensten Stuben gelegt und in die dichtesten Bettverschläge; aber
sie hörten es, sie hörten es, als ob es in ihrem eigenen Leibe wäre, und
sie flehten, auch aufstehen zu dürfen, und kamen, weiß und weit, und
setzten sich zu den andern mit ihren verwischten Gesichtern. Und die
Kühe, welche kalbten in dieser Zeit, waren hülflos und verschlossen,

und einer riß man die tote Frucht mit allen Eingeweiden aus dem Leibe,
als sie gar nicht kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk schlecht
und vergaßen das Heu hereinzubringen, weil sie sich bei Tage
ängstigten vor der Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und vom
erschreckten Aufstehen so er mattet waren, daß sie sich auf nichts
besinnen konnten. Und wenn sie am Sonntag in die weiße, friedliche
Kirche gingen, so beteten sie, es möge keinen Herrn mehr auf Ulsgaard
geben: denn dieser war ein schrecklicher Herr. Und was sie alle
dachten und beteten, das sagte der Pfarrer laut von der Kanzel herab,
denn auch er hatte keine Nächte mehr und konnte Gott nicht begreifen.
Und die Glocke sagte es, die einen furchtbaren Rivalen bekommen
hatte, der die ganze Nacht dröhnte und gegen den sie, selbst wenn sie
aus allem Metall zu läuten begann, nichts vermochte. Ja, alle sagten es,
und es gab einen unter den jungen Leuten, der geträumt hatte, er wäre
ins Schloß gegangen und hätte den gnädigen Herrn erschlagen mit
seiner Mistforke, und so aufgebracht war man, so zu Ende, so überreizt,
daß
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