Die Aufzeichnungen des Malte Laurid Brigge | Page 5

Rainer Maria Rilke
einem gewissen Platz der Cité gefahren kommt. Es ist zu
bemerken, daß diese verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende
Milchglasfenster haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien
vor stellen kann; dafür genügt die Phantasie einer Concierge. Hat man

noch mehr Einbildungskraft und schlägt sie nach anderen Richtungen
hin, so sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch
offene Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem
Verdeck, die nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die
Sterbestunde.
Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs
Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten
gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der
einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht
an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut
ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch
leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und
gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird
immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie
ein eigenes Leben. Gott; das ist alles da. Man kommt, man findet ein
Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist
dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur.
Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der
Krankheit gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt,
weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den
Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat
sozusagen nichts zu tun).
In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit gegen
Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der
Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu
Hause stirbt, ist es natürlich, jenen höflichen Tod der guten Kreise zu
wählen, mit dem gleichsam das Begräbnis erster Klasse schon anfängt
und die ganze Folge seiner wunderschönen Gebräuche. Da stehen dann
die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod ist natürlich
banal, ohne alle Umstände. Sie sind froh, wenn sie einen finden, der
ungefähr paßt. Zu weit darf er sein: man wächst immer noch ein
bißchen. Nur wenn er nicht zugeht über der Brust oder würgt, dann hat
es seine Not.
Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube

ich, das muß früher anders gewesen sein. Früher wußte man (oder
vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht
den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen
einen großen. Die Frauen hatten ihn im Schooß und die Männer in der
Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde
und einen stillen Stolz.
Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man es
an, daß er einen Tod in sich trug. Und was war das für einer: zwei
Monate lang und so laut, daß man ihn hörte bis aufs Vorwerk hinaus.
Das lange, alte Herrenhaus war zu klein für diesen Tod, es schien, als
müßte man Flügel anbauen, denn der Körper des Kammerherrn wurde
immer größer, und er wollte fortwährend aus einem Raum in den
anderen getragen sein und geriet in fürchterlichen Zorn, wenn der Tag
noch nicht zu Ende war und es gab kein Zimmer mehr, in dem er nicht
schon gelegen hatte. Dann ging es mit dem ganzen Zuge von Dienern,
Jungfern und Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe hinauf
und, unter Vorantritt des Haushofmeisters, in seiner hochseligen Mutter
Sterbezimmer, das ganz in dem Zustande, in dem sie es vor
dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte, erhalten worden war und das
sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt brach die ganze Meute dort ein.
Die Vorhänge wurden zurückgezogen, und das robuste Licht eines
Sommernachmittags untersuchte alle die scheuen, erschrockenen
Gegenstände und drehte sich ungeschickt um in den aufgerissenen
Spiegeln. Und die Leute machten es ebenso. Es gab da Zofen, die vor
Neugierde nicht wußten, wo ihre Hände sich gerade aufhielten, junge
Bediente, die alles anglotzten, und ältere Dienstleute, die herumgingen
und sich zu erinnern suchten, was man ihnen von diesem
verschlossenen Zimmer, in dem sie sich nun glücklich befanden, alles
erzählt hatte.
Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem Raum, wo
alle Dinge rochen, ungemein anregend. Die großen, schmalen
russischen Windhunde liefen beschäftigt hinter den Lehnstühlen hin
und her, durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender Bewegung
das Gemach, hoben sich wie Wappenhunde auf und schauten, die

schmalen Pfoten auf das weißgoldene Fensterbrett gestützt, mit spitzem,
gespanntem Gesicht und zurückgezogener Stirn nach rechts und nach
links in den Hof. Kleine, handschuhgelbe Dachshunde saßen, mit
Gesichtern, als wäre alles ganz in der Ordnung, in dem breiten,
seidenen Polstersessel am Fenster, und ein stichelhaariger, mürrisch
aussehender Hühnerhund rieb seinen Rücken an der Kante eines
goldbeinigen Tisches,
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