Die Aufzeichnungen des Malte Laurid Brigge | Page 4

Rainer Maria Rilke
die Treppe. Kommt,
kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die
Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die
Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles.
Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine
Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das
ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.
Das sind die Geräusche. Aber es giebt hier etwas, was furchtbarer ist:
die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein
Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die

Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos schiebt
sich ein schwarzes Gesimse voroben, und eine hohe Mauer, hinter
welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet
mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen
zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.
Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in
mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu
Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht
jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.
Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen,
daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem
Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre.
Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem
sagen, daß ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war,
und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine
Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen,
kann ich unmöglich schreiben.
Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen--ja, ich fange an. Es geht
noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.
Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist,
wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch
viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen
ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es
bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf
der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie
wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug,
behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun
fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit
den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es
kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht?
Gesicht ist Gesicht.
Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach
dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für

immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat
natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen,
ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn
wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus,
das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.
Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber
in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich
fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute
nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein.
Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den
Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da,
wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab,
zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich
konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich
unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht
zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein
Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel
mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.
Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun, wenn man sie
einmal hat. Es wäre sehr häßlich, hier krank zu werden, und fiele es
jemandem ein, mich ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort
gewiß sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel, ungeheuer
besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris
betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell
wie möglich über den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu
werden. Das sind kleine Omnibusse, die fortwährend läuten, und selbst
der Herzog von Sagan müßte sein Gespann halten lassen, wenn so ein
kleiner Sterbender es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in
Gottes Hôtel zu wollen. Sterbende sind starrköpfig, und ganz Paris
stockt, wenn Madame Legrand, brocanteuse aus der rue des Martyrs,
nach
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