Die Aufzeichnungen des Malte Laurid Brigge | Page 3

Rainer Maria Rilke
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ETEXTS*Ver.04.29.93*END*

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
Rainer Maria Rilke

Ich sehe seit einer Weile ein, daß ich Menschen, die in der Entwicklung
ihres Wesens zart und suchend sind, streng davor warnen muß, in den
Aufzeichnungen Analogien für das zu finden, was sie durchmachen;
wer der Verlockung nachgibt und diesem Buch parallel geht, muß
notwendig abwärts kommen; erfreulich wird es wesentlich nur denen
werden, die es gewissermaßen gegen den Strom zu lesen unternehmen.
Diese Aufzeichnungen indem sie ein Maß an sehr angewachsene
Leiden legen, deuten an, bis zu welcher Höhe die Seligkeit steigen
könnte, die mit der Fülle dieser selben Kräfte zu leisten wäre.
R.M.R (Aus den Briefen vom Februar 1912) II. September, rue
Toallier.

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher
meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen:
Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und
umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den

Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an
einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete,
wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da.
Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d'Accouchement. Gut.
Man wird sie entbinden--man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein
großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce,
Hôspital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es
schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch,
soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von
pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe
ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu
finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit.
Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war
nicht teuer.
Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick,
grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte
offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen,
atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die
Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.
Daß ich es nicht lassen kann, bei offenen Fenster zu schlafen.
Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile
gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe
herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter
kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der
anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt
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