Deutsches Leben der Gegenwart | Page 5

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friedlosen, sehenden Augen an uns vorüber.
Langsam erst ringt sich aus dieser Heimatlosigkeit und Sehnsucht ein Hoffen, ein Ahnen, ein Wissen von neuer Verbundenheit: in Frau und Kindern beginnt ihm das Leben neu, ein erstes Menschenpaar, eine junge Welt. Durch sie fühlt er sich den Menschen wieder verbunden, nicht in Sehnsucht mehr, in lebendigem Anteil. "K?nigliche Hoheit" zeichnet die Erl?sung durch die Liebe von einem formalen, repr?sentativen Dasein zur Tat und Gemeinschaft, zum "strengen Glück". Ein Kunst- und M?rchenspiel von romanischer Klarheit, Bewu?theit, überlegenheit der Form, von deutscher Innerlichkeit, Einsamkeit, Pflicht und Liebestiefe des Gehalts. Der "Gesang vom Kindchen" gibt Geburt und Taufe eines T?chterchens, Menschlich-Schlichtestes als Menschlich-Tiefstes, fast ohne ?sthetische Form, nur als Ausdruck der formgewordenes, harmonischen Pers?nlichkeit. Und das Prosaidyll "Herr und Hund" zieht in Bauschan, dem Hühnerhund, auch das Tier in die Gemeinschaft des Lebens und der Liebe ein.
Aus dieser wurzeltiefen Lebensgemeinschaft, dieser sittlichen Zugeh?rigkeit und Entschlossenheit, dieser W?rme, Liebe und Güte formt er die letzte, klassische Auseinandersetzung, die Absage an die zersetzenden Kr?fte in sich und der Umwelt: an die aufl?sende Erkenntnis, die Relativierung der Werte und--tiefer und tragischer im Konflikt seines Helden--an die leere Sch?nheit, die blo?e Form: "Der tiefe Entschlu? des Meister gewordenen Manns, das Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenes Hauptes darüber hinwegzugehen, sofern es den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die Leidenschaft im geringsten zu l?hmen, zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist, liegt hinter dem Dichter Aschenbach, dem Helden der Meisternovelle 'Der Tod in Venedig'." Im Kampfe zwischen Geist und Kunst hat er leidenschaftlich für die Kunst gefochten. Um der Kunst willen hat er dem Leben entsagt, an der Einsamkeit seines Schreibtisches hat er gegen seinen schw?chlichen K?rper in z?hem, unermüdlichem Ringen die reine Form seiner Werke erk?mpft, die ihm ebenso ethische wie ?sthetische Aufgabe war. Aber hinter dieser Form, die den Spannungen seines Willens und Bewu?tseins abgerungen, die nicht organischen Lebens- und Liebestiefen entwachsen ist, droht st?ndig die Gefahr der Abspannung und Entfesselung, der Zügellosigkeit und Vernichtung. Auf der H?he seines Ruhmes verführt und überw?ltigt sie ihn. Sie lockt ihn nach den Gestaden Venedigs, wo das das Leben Schein und die Kunst Wirklichkeit ist. Sie entzündet in ihm die Liebe zu Tadzio, dem sch?nen Polenknaben, eine zuchtlose Ausschweifung seiner künstlerischen und sinnlichen Phantasie, sie sich nicht an der Wirklichkeit beruhigen, berichtigen, gestalten kann noch will, eine weglose Liebe zur reinen Form, die zur Unfruchtbarkeit verdammt ist, die nicht zeugen kann im Geliebten, die widernatürlich und t?dlich ist. In tragischer Steigerung, in unentwirrbarer Mischung des Heiligen und Verworfenen, jagt sie "den Meister, den würdig gewordenen Künstler", durch alle Leiden und Leidenschaften, alle Verzückung und Erniedrigung zur "Unzucht und Raserei des Untergangs". Nie sind die eingeborenen Gefahren der Kunst würdiger und erschütternder gestaltet, die Gefahren der Sch?nheit, die dem Geist wie den Sinnen verknüpft ist, die in jedem von ihnen zur Ausschweifung neigt, sofern nicht beide in der h?heren Einheit der Seele sich organisch finden und binden.
Dann kam der Krieg. Und über alle milit?rischen und politischen K?mpfe erlebte ihn Thomas Mann als die unerbittliche Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen, jener Gegens?tze, die er in sich selber erlitten und entschieden hatte: das Germanische und das Romanische, das Deutsch-Dichterische und das Europ?isch-Intellektuelle, Kunst und Erkenntnis, Gehalt und Form, Kultur und Zivilisation. In seinem eigenen Bruder war der Teil seines Wesens, den er abgelehnt und ausgemerzt hatte, Wille und Angriff geworden. Gegen seinen Bruder mu?te er diesen Kampf noch einmal aufnehmen und für die deutsche Seele entscheiden. Alle gro?en Epiker waren Gestalter ihres Volkes, nicht nur im ?sthetischen, auch im ethischen Sinne: Deuter, Mahner, Erzieher: Wolfram von Eschenbach im "Parzival", Grimmelshausen im "Simplizissimus", Goethe im "Wilhelm Meister" Gottfried Keller im "Grünen Heinrich" und "Martin Salander"; Jeremias Gotthilf in jedem seiner schollentreuen Romane. Es brauchte des franz?sischen Vorbildes, Emil Zolas, nicht, das Heinrich Mann seinem Bruder entgegenstellte. Das Bild, das sie formen wollten und mu?ten aus dem Rohstoff ihres Volker: das entschied ihre Bedeutung. Für Heinrich Mann war der Mensch ein soziales Lebewesen; er predigte den sozialen, franz?sischen, rationalistischen, optimistischen Menschen des 18. Jahrhunderts. Thomas Mann sah im Menschen das metaphysische Lebewesen; er gestaltete und verkündete den metaphysischen, deutschen und russischen, religi?sen, ja mystischen, pessimistischen Menschen des 19. Jahrhunderts. Dem Standbild Zolas hatte er sein Standbild Friedrichs des Gro?en entgegengestellt, den geschw?tzigen, optimistischen, rationalistischen "Vier Evangelien" des Romanciers die D?monie und herrische Pflichttreue des gottgeschlagenen und gotterw?hlten K?nigs, der sich verzehrte in Arbeit, Einsamkeit und endlosen Kriegen, da? von ihm nichts übrigblieb wie ein abgemergelter, verschrumpfter Kinderleib, den ein Diener mit einem seiner Hemden bekleiden mu?te, da "man kein heiles, sauberes Hemd in seinen Schubladen fand".
Aus den metaphysischen Tiefen solcher Bereitschaft und Berufung ersehnt und erweckt Thomas Mann seinem Volk jene Kr?fte, die imstande sind, "die fortschreitende Zerst?rung aller psychischen Wirklichkeit und seelischen Form, die scheinbar unaufhaltsame Anarchisierung und Barbarisierung der Menschenwelt durch den revolution?ren Intellekt" zu überwinden,
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