Deutsches Leben der Gegenwart | Page 5

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in den
"Lamentationen" Heines, den das Leben verwiesen und in die
Matratzengruft geworfen hatte, so ziehen die Verfolgten und
Verratenen des Lebens--Tobias Mindernickel, der kleine Herr
Friedemann, der Bajazzo, Rechtsanwalt Jacoby, Friedrich Schiller,
Baronin Anna, Lobgott Piepsam, Van der Qualen, Hieronymus--mit
friedlosen, sehenden Augen an uns vorüber.
Langsam erst ringt sich aus dieser Heimatlosigkeit und Sehnsucht ein
Hoffen, ein Ahnen, ein Wissen von neuer Verbundenheit: in Frau und
Kindern beginnt ihm das Leben neu, ein erstes Menschenpaar, eine
junge Welt. Durch sie fühlt er sich den Menschen wieder verbunden,
nicht in Sehnsucht mehr, in lebendigem Anteil. "Königliche Hoheit"
zeichnet die Erlösung durch die Liebe von einem formalen,
repräsentativen Dasein zur Tat und Gemeinschaft, zum "strengen
Glück". Ein Kunst- und Märchenspiel von romanischer Klarheit,
Bewußtheit, Überlegenheit der Form, von deutscher Innerlichkeit,
Einsamkeit, Pflicht und Liebestiefe des Gehalts. Der "Gesang vom
Kindchen" gibt Geburt und Taufe eines Töchterchens,
Menschlich-Schlichtestes als Menschlich-Tiefstes, fast ohne ästhetische
Form, nur als Ausdruck der formgewordenes, harmonischen

Persönlichkeit. Und das Prosaidyll "Herr und Hund" zieht in Bauschan,
dem Hühnerhund, auch das Tier in die Gemeinschaft des Lebens und
der Liebe ein.
Aus dieser wurzeltiefen Lebensgemeinschaft, dieser sittlichen
Zugehörigkeit und Entschlossenheit, dieser Wärme, Liebe und Güte
formt er die letzte, klassische Auseinandersetzung, die Absage an die
zersetzenden Kräfte in sich und der Umwelt: an die auflösende
Erkenntnis, die Relativierung der Werte und--tiefer und tragischer im
Konflikt seines Helden--an die leere Schönheit, die bloße Form: "Der
tiefe Entschluß des Meister gewordenen Manns, das Wissen zu leugnen,
es abzulehnen, erhobenes Hauptes darüber hinwegzugehen, sofern es
den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst die Leidenschaft im
geringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist, liegt
hinter dem Dichter Aschenbach, dem Helden der Meisternovelle 'Der
Tod in Venedig'." Im Kampfe zwischen Geist und Kunst hat er
leidenschaftlich für die Kunst gefochten. Um der Kunst willen hat er
dem Leben entsagt, an der Einsamkeit seines Schreibtisches hat er
gegen seinen schwächlichen Körper in zähem, unermüdlichem Ringen
die reine Form seiner Werke erkämpft, die ihm ebenso ethische wie
ästhetische Aufgabe war. Aber hinter dieser Form, die den Spannungen
seines Willens und Bewußtseins abgerungen, die nicht organischen
Lebens- und Liebestiefen entwachsen ist, droht ständig die Gefahr der
Abspannung und Entfesselung, der Zügellosigkeit und Vernichtung.
Auf der Höhe seines Ruhmes verführt und überwältigt sie ihn. Sie lockt
ihn nach den Gestaden Venedigs, wo das das Leben Schein und die
Kunst Wirklichkeit ist. Sie entzündet in ihm die Liebe zu Tadzio, dem
schönen Polenknaben, eine zuchtlose Ausschweifung seiner
künstlerischen und sinnlichen Phantasie, sie sich nicht an der
Wirklichkeit beruhigen, berichtigen, gestalten kann noch will, eine
weglose Liebe zur reinen Form, die zur Unfruchtbarkeit verdammt ist,
die nicht zeugen kann im Geliebten, die widernatürlich und tödlich ist.
In tragischer Steigerung, in unentwirrbarer Mischung des Heiligen und
Verworfenen, jagt sie "den Meister, den würdig gewordenen Künstler",
durch alle Leiden und Leidenschaften, alle Verzückung und
Erniedrigung zur "Unzucht und Raserei des Untergangs". Nie sind die
eingeborenen Gefahren der Kunst würdiger und erschütternder gestaltet,

die Gefahren der Schönheit, die dem Geist wie den Sinnen verknüpft ist,
die in jedem von ihnen zur Ausschweifung neigt, sofern nicht beide in
der höheren Einheit der Seele sich organisch finden und binden.
Dann kam der Krieg. Und über alle militärischen und politischen
Kämpfe erlebte ihn Thomas Mann als die unerbittliche
Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen, jener Gegensätze, die
er in sich selber erlitten und entschieden hatte: das Germanische und
das Romanische, das Deutsch-Dichterische und das
Europäisch-Intellektuelle, Kunst und Erkenntnis, Gehalt und Form,
Kultur und Zivilisation. In seinem eigenen Bruder war der Teil seines
Wesens, den er abgelehnt und ausgemerzt hatte, Wille und Angriff
geworden. Gegen seinen Bruder mußte er diesen Kampf noch einmal
aufnehmen und für die deutsche Seele entscheiden. Alle großen Epiker
waren Gestalter ihres Volkes, nicht nur im ästhetischen, auch im
ethischen Sinne: Deuter, Mahner, Erzieher: Wolfram von Eschenbach
im "Parzival", Grimmelshausen im "Simplizissimus", Goethe im
"Wilhelm Meister" Gottfried Keller im "Grünen Heinrich" und "Martin
Salander"; Jeremias Gotthilf in jedem seiner schollentreuen Romane.
Es brauchte des französischen Vorbildes, Emil Zolas, nicht, das
Heinrich Mann seinem Bruder entgegenstellte. Das Bild, das sie
formen wollten und mußten aus dem Rohstoff ihres Volker: das
entschied ihre Bedeutung. Für Heinrich Mann war der Mensch ein
soziales Lebewesen; er predigte den sozialen, französischen,
rationalistischen, optimistischen Menschen des 18. Jahrhunderts.
Thomas Mann sah im Menschen das metaphysische Lebewesen; er
gestaltete und verkündete den metaphysischen, deutschen und
russischen, religiösen, ja mystischen, pessimistischen Menschen des 19.
Jahrhunderts. Dem Standbild Zolas hatte er sein Standbild Friedrichs
des Großen entgegengestellt, den geschwätzigen, optimistischen,
rationalistischen "Vier Evangelien" des Romanciers die Dämonie und
herrische Pflichttreue des gottgeschlagenen und gotterwählten Königs,
der sich verzehrte in Arbeit, Einsamkeit und endlosen Kriegen, daß von
ihm nichts übrigblieb wie ein abgemergelter, verschrumpfter
Kinderleib, den ein Diener mit einem seiner Hemden bekleiden mußte,
da "man kein heiles, sauberes Hemd in seinen Schubladen fand".

Aus
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