Deutsches Leben der Gegenwart | Page 4

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wird zum

Helden des sinkenden bürgerlichen Ideals. Aber die alten
Lebensformen halten weniger ihn, als daß er sie hält. Der Held wird
zum Schauspieler des Ideals; er repräsentiert es, er verkörpert es nicht.
"Der gänzliche Mangel eines aufrichtig feurigen Interesses, das ihn in
Anspruch genommen hätte, die Verarmung und Verödung seines
Innern, verbunden mit einer unerbittlichen inneren Verpflichtung und
zähen Enschlossenheit, um jeden Preis würdig zu repräsentieren, seine
Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die Dehors zu wahren,
hatte dies aus seinem Dasein gemacht, hatte es künstlich, bewußt,
gezwungen gemacht und bewirkt, daß jedes Wort, jede Bewegung, jede
geringste Aktion unter Menschen zu einer anstrengenden und
aufreibenden Schauspielerei geworden war."
Diesem Schauspieler des Ideals wird als Sohn Hanno Buddenbrook, der
viel zu müde ist, um zu schauspielern, viel zu vornehm, um gleich
seinem Onkel Christian zum "Fahrenden" zu werden. Wenn er zur
Kunst flüchtet, so sucht er nicht das Formlose im Leben, sondern das
Formlose jenseits des Lebens: die Musik, die vor und über aller
Erscheinung ist, das Meer der unendlichen Melodie, das sein
Tropfendasein erlösend zurücknimmt. Von den alten bürgerlichen
Lebensformen verlassen, nach neuen nicht begierig, ein Bürger des
Metaphysischen, das sich seinem Vater nur in der Lesung
Schopenhauers einmal blendend enthüllt hat, gibt er leidvoll und
heimwehmüde vor der Zeit das Leben preis.
Wie diese--erst in Hanno ungehemmte--"Sympathie mit dem Tode"
heimlich aus der bürgerlichen Diesseitigkeit der Generationen
emporwächst, ist in weitgespannter, erschütternder Symbolik
dargestellt. Die ersten, eigentlich epischen, lebensbejahenden
Generationen verstehen den Tod nicht: "Kurios! Kurios!" murmelt der
alte Monsieur Buddenbrook am Sterbebett seiner Frau mit leisem,
erstauntem Kopfschütteln; mit einem letzten "Kurios" kehrt er selber
sich sterbend zur Wand. "Mit Furcht und einem offenkundigen, naiven
Haß" beobachtet die Konsulin Buddenbrook, "die ehemalige Weltdame,
mit ihrer stillen, natürlichen und dauerhaften Liebe zum Wohlleben und
zum Leben überhaupt" die Fortschritte ihrer Krankheit; sie kämpft mit
dem Tod in langer, verzweifelter Kraft. Thomas Buddenbrook aber, der

Held und Schauspieler des bürgerlichen Ideals, ist längst so vom Tode
unterhöhlt, daß ein Zahngeschwür genügt, um seine krampfhafte
Lebensbehauptung niederzureißen. Mitten auf der Straße wirft es ihn
um; der so lang und gewissenhaft Würde, Haltung, Form verteidigt,
liegt im Kot und Schneewasser des Fahrdamms. "Seine Hände, in den
weißen Glacéhandschuhen, lagen ausgestreckt in einer Pfütze." Hanno
aber kämpft nicht mehr gegen den Tod; hemmungslos ersehnt und ruft
er ihn als den Freund und Erlöser.
Mit ähnlicher, weitgespannter Symbolik, mit gleicher Fülle und Dauer
der inneren Beziehungen baut sich alles auf in diesem Roman. Von den
alten Epen ist das Leitmotiv übernommen und über Richard Wagner
her musikalisch verinnerlicht, symbolisch vertieft. Gegenüber der
lockeren Form des "Wilhelm Meister" und des "Grünen Heinrich" ist
hier an Geschlossenheit des epischen Aufbaus in Deutschland ein
Höchstes erreicht.
Die "Buddenbrooks" schreibt Thomas Mann, dreiundzwanzig bis
sechsundzwanzig Jahre alt, in Italien und München, so wie Gottfried
Keller seinen "Grünen Heinrich" in Berlin niederschrieb. Nicht er allein
schuf diesen Roman; durch ihn schuf und gestaltete sich sein
Geschlecht, sein Heimatstaat Lübeck, wie der Berner Stadt-Staat durch
Jeremias Gotthelf, Zürich durch Gottfried Keller, das alte Berlin durch
Theodor Fontane sich Gestalt erdrang. Aber Gottfried Keller kehrte aus
Berlin nach Zürich heim, wurde Staatsschreiber und Führer, nahm in
Anteil und Liebe neue Lebensbilder und -schicksale seines Volkes auf,
Grund und Gehalt zu neuen Schöpfungen. Was blieb Thomas Mann,
dem Epiker, der seine eigene Welt zu Grabe getragen, der ihr das letzte
Zeichen seiner Liebe im Riesendenkmal seiner Dichtung geschaffen
hatte? Ein Lyriker hat die Natur, ein Dramatiker. die Idee, die seiner
Kunst Boden und Wachstum geben. Ein Epiker ist undenkbar ohne
Volks- und Heimatzusammenhang. Im Weh verfrühter Hellsicht stand
der Einsame, Zurückgebliebene, ein König ohne Land, ein Bildner
ohne Stoff. Sollte er zum bloßen Zuschauer, Beobachter, Kritiker, zum
weiteren Zersetzer des Lebens werden? Sollte er das Leben verachten,
das ihm nicht gemäß war, und hochmütig sich in das Reich einer rein
formalen Kunst, einer l'art pour l'art, zurückziehen? Das

Europäisch-Intellektuelle seine Wesens, das Romanische seines Blutes
drängte zu diesem Entscheid. Der Zwiespalt wurde zur Dichtung: In
den "Buddenbrooks" hatte Thomas Mann sich Rechenschaft über das
Problem seines Lebens gegeben, im "Tonio Kröger" gab er sich
Rechenschaft über seine Kunst.
Und er blieb dem Leben treu, obwohl es ihn allein gelassen hatte. Über
die Qual der Einsamkeit, den Hochmut der Form und Erkenntnis
hinweg bekannte, ja predigte er "die Bürgerliebe zum Menschlichen,
Lebendigen und Gewöhnlichen. Alle Wärme, alle Güte, aller Humor
kommt aus ihr, und fast will mir scheinen, als sei sie jene Liebe selbst,
von der geschrieben steht, daß einer mit Menschen- und Engelszungen
reden könne und ohne sie doch nur ein tönendes Erz und eine klingende
Schelle sei." Er verspottete und geißelte die Gefahren des Literaten-
und Ästhetentums--seine Gefahren!--im Schriftsteller Spinell. In
Leidverwandtschaft kehrte er sich den Enterbten des Lebens zu, sprach
er sein Leid in ihrem Leid, im Weltleid aus. Wie
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