Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde | Page 6

Klabund
krachte damals in allen Fugen. Die ersten Wehen der
Reformation kündeten eine neue Ära an. Sebastian Brant aus Straßburg
(1458-1521) hatte als Sohn eines Gastwirtes früh offene Augen für die
Lächerlichkeiten und Laster seiner Mitmenschen bekommen. In
Übergangszeiten, wo die Begriffe schwanken und wie Karten eines
Kartenspieles durcheinandergemischt werden, pflegen sich alle
närrischen Eitelkeiten der Menschheit wie in einem konkaven Spiegel
noch ins Breite zu verzerren und zu vergröbern. Sebastian Brant
studierte Recht -- ohne es irgendwo zu finden. Er promovierte an der
Universität Basel. 1494 erschien sein »Narrenschiff«. Auf dieses hatte
er alle Narren zu Gast gebeten, die er nur auftreiben konnte. Aber das
Schiff erwies sich als zu klein. Die Säufer, die Gecken, die Spieler, die
Kirchenschänder, die Geizhälse, Wucherer, Studenten, Ehebrecher,
Huren füllten es bis an den Rand. Auch du, lieber Leser, und ich, wenn
wir nur ein wenig in uns gehen und nachdenken: wir befinden uns unter
jenen Narren. Sebastian Brant hat uns, fünfhundert Jahre, bevor wir
geboren wurden, trefflich abkonterfeit. Aber es ist ein Bild, das wir uns
nicht hinter den Spiegel stecken oder unserer Base zum Geburtstag
schenken werden. -- Zwanzig Jahre nach dem Narrenschiff legte
Knecht Rupprecht 1519 den Deutschen die erste Ausgabe des
Volksbuches von Tyll Eulenspiegel auf den Weihnachtstisch. Die
hatten eine Freude wie wohl seit hundert Jahren nicht über ein Buch.
Noch im 16. Jahrhundert erschienen achtzehn deutsche Ausgaben; es
wurde sofort ins Vlämische, Niederländische, Englische und
Französische übersetzt. Woher dieser spontane Erfolg? Brants
Narrenschiff war eine mehr oder weniger literarische Angelegenheit
gewesen, im Eulenspiegel sah und lachte das Volk sich wieder einmal
selber ins Gesicht. In allen Fastnachtskomödien war er ja schon als
Kasperle oder Hanswurst figürlich aufgetreten, hier hatte man seine in
wohlgesetzte Worte gebrachte Biographie des komischen Heldenlebens.

Eulenspiegel, der ernsthafte Schalk, ist die Typisierung der einen Seite
des deutschen Ideals, dessen andere Seite (ob Rück- oder Vorderseite
der Medaille bleibe dahingestellt) den Doktor Faust, titanischen Ringer
um die letzten Probleme, zeigt. Eulenspiegel tritt auf als Richter der
Menschheit: er richtet sie mit einem schiefen Zucken seines Mundes,
mit der sofortigen Realisierung ihrer Ideen, deren Wert und
Möglichkeit dadurch =ad absurdum= geführt werden. Er ist zugleich
leicht- und tiefsinnig. Seine Späße exemplifizieren das Chaos. Sie
dozieren bis zur Brutalität das Bibelwort: Der Mensch ist aus Dreck
gemacht. Das Urbild des Tyll Eulenspiegel hat wirklich gelebt.
Chroniken berichten von seinem 1350 zu Mölln erfolgten Tode, wo
noch heute sein Grabstein gezeigt wird. Vorher waren schon
Schwankbücher wie Jörg Wickrams »Rollwagenbüchlein« oder des
Bruders Johannes Pauli »Schimpf und Ernst« (1522) Mode geworden:
Bücher, die heitere oder moralische Anekdoten erzählten, die sich nicht
um einen einzelnen Narren gruppierten: die damalige Reiselektüre, auf
den Rollwagen mitzunehmen. Wobei zu bemerken ist, daß diese
Reiselektüre unendlich gehaltvoller war als die heute verbreitete.
Bruder Johannes Pauli ist ein belesener und witziger Mann, der
ausgezeichnet zu erzählen vermag und unsere Stratz und Höcker
überragt wie ein Kirchturm eine verkrüppelte Kiefer. Da liest man
folgendes: »Man zog einmal aus in einen Krieg mit großen Büchsen
und mit viel Gewehren, wie es denn Sitte ist; da stund ein Narr da und
fragte, was Lebens das wäre? Man sprach: Die ziehen in den Krieg!
Der Narr sprach: Was tut man im Krieg? Man sprach: Man verbrennt
Dörfer und gewinnt Städte und verdirbt Wein und Korn und schlägt
einander tot. Der Narr sprach: Warum geschieht das? Sie sprachen:
Damit man Frieden mache! Da sprach der Narr: Es wäre besser, man
machte vorher Frieden, damit solcher Schaden vermieden bliebe. Wenn
es mir nachginge, so würde ich vor dem Schaden Frieden machen und
nicht danach; darum so bin ich witziger als Eure Herren.« Hätten wir
Deutschen vor dem Kriege Johannes Pauli als Reiselektüre gelesen an
Stelle von Walter Bloems »Eisernem Jahr«: vielleicht wäre es nicht
zum Kriege gekommen, und wir hätten uns dieses Narren Meinung zu
Herzen genommen.
* * * * *

Luther wurde 1483 in Eisleben als Sohn eines herrischen Vaters
geboren. Er verbrachte seine Jugend mißmutig, störrisch, verprügelt,
und richtete schon früh sein Auge von der Misere außen nach innen.
Sein Vater hat ihn hart geschlagen: daß er wie ein Stein oder ein Stück
Holz schien. Aber hinter der harten Schale verbarg sich ein weicher
und süßer Kern. Sein »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe
mir, Amen!« wird immer ein Fanfarenruf aller aufrechten Männer sein.
Sein Reformationswerk war eine historische Notwendigkeit. Aber die
Historie wandelt sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt. Bismarcks Werk schien auf Felsen gegründet: wenige
Jahrzehnte genügten, es zu unterhöhlen, bis es 1918 mit einem
gewaltigen Krach zusammenstürzte. Auch über Luthers Reformation ist
das letzte Urteil von der Geschichte noch nicht gefällt. Unsere heutige
evangelische Kirche spricht in ihrer aufklärerischen, kahlen, gottlosen
Nüchternheit nicht für eine lange Dauer. Die Zeit will wieder fromm
werden. Luther war ein religiöser Mensch, die Lutheraner
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