Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde | Page 5

Klabund
Schultern von tausend anonymen
Autoren, die kommen mußten, damit er kommen konnte. Im 15. und 16.
Jahrhundert wurde der Grundstock gelegt zu jenem Gebäude des 18.
Jahrhunderts voll vollendeter Klassizität, das den Namen Goethe tragen
sollte. Aber auch Matthias Claudius, Clemens Brentano, Eichendorff,
Heine haben mit den Bausteinen gearbeitet, die jene bescheidenen
Männer schichteten. Vielleicht sind ihre Werke der lauterste Ausdruck

des deutschen Kunstwillens und des deutschen Geistes, der dann am
tiefsten ist, wenn er aus dem Unbewußten steigt, dann am reinsten,
wenn er aus den dunkelsten Quellen schöpft. Diese Dichter ohne
Namen tragen den Himmel in ihren Händen, aber sie stehen mit beiden
Beinen fest auf der Erde.
* * * * *
Die Entwicklung des Menschengeschlechtes geht in
Wellenbewegungen vor sich, wobei Wellenberg und Wellental
einander folgen und der Scheitelpunkt des Wellenberges sich nur
langsam erhöht. Mit Walter von der Vogelweide, Gottfried von
Straßburg, Wolfram von Eschenbach und dem Nibelungenliede hatte
die junge deutsche Dichtung eine Höhe erreicht, von der sie bald
kläglich wieder abstürzen sollte. Das Rittertum zerfiel und mit dem
Rittertum die Ritterpoesie. Teils artete sie in allegorische Spielerei,
teils in aufgeblasene Geckigkeit aus. Die Dichtung floh barfüßig und
barhäuptig auf die Landstraße und fristete im Munde der Fahrenden
von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus ihr Leben. Ins 15. und 16.
Jahrhundert fällt die Blütezeit des deutschen Volksliedes. Zuweilen
nahm sie ein Kloster auf, Dann sangen die Nonnen ein Lied, wie das
geistliche Trinklied der Nonnen am Niederrhein. Zuweilen fand sie
Unterschlupf bei braven Bürgersleuten. Das Bürgertum war im
Aufstieg begriffen. Es gab wohlhabende Bürger, deren Söhne sich das
Dichten leisten konnten. Sie meinten, die Dichtung würde sich hinter
dem Ofen, in der Wärme, in dem Dunst satter Behäbigkeit recht wohl
fühlen. Sie stopften ihr den Magen mit allerlei guten Dingen, aber sie
taten des Guten zuviel, daß sie erbrach. Von der graziösen Handhabung
der Sprache durch Meister wie Gottfried oder Walter blieb nicht viel
übrig. Der Rhythmus fiel auseinander -- was Hebung, was Senkung --,
man zählte einfach die Silben zusammen. Aus dem Minnesang erwuchs
der Meistergesang. Der Tiroler Oswald v. Wolkenstein (+ 1445)
versuchte noch einmal den ritterlichen Pegasus aufzuzäumen. Er brach
unter ihm zusammen; seine Zeitgenossen nahmen das Zaumzeug und
schnitten die Flügel von dem verendenden Tier. Sie klebten sie ihren
plumpen Dorf- und Stadtgäulen an und bildeten sich nun ein, sie
würden fliegen. Die ritterliche Rüstung schepperte als viel zu groß um

ihre dürren Glieder. Auch wagten sie, ihrer Unzulänglichkeit irgendwie
bewußt, schon nicht mehr einzeln als Individualisten aufzutreten. Sie
dichteten kollektiv gleich in ganzen Gruppen, Gilden und Vereinen. Sie
imitierten die Form ohne den Geist. Diese Form ist lehr- und lernbar.
Man wird, wie beim Handwerk, erst Dichterlehrling, dann
Dichtergeselle, dann Dichtermeister. Wobei Dichter- und
Bäckermeister oft dasselbe sind. Aber die Brote geraten ihnen besser
als die Gedichte. In den Meistersingerschulen wurde nach der
Tabulatur das Dichter-Abc gelehrt. Um 1450 wurde die erste
Meistersingerschule in Augsburg gegründet. Wenige Jahre später
finden sie sich in fast allen größeren Städten. Sie fechten Wettkämpfe
miteinander aus. Sie überbieten sich in der Erfindung verschrobener
und gekünstelter Versmaße. Der Vollender und Überwinder des
Meistersanges ist Hans Sachs, geboren 1494 in Nürnberg, das eine der
berühmtesten Meistersingerschulen sein eigen nannte. Hans Sachs war
Schuhmacherlehrling, als ihm der Weber Nunnenbeck die
Anfangsgründe der Meistersingerkunst beibrachte. Er ging wie ein
rechter Schuster auf die Wanderschaft, kehrte, nachdem er so viele
Erfahrungen gesammelt als er Schuhe besohlt hatte, 1519 in seine
Heimat zurück, die durch Peter Vischer und Albrecht Dürer zu einem
Haupt- und Vorort deutscher Kultur geworden war. Seine eigentlichen
Meistergesänge (über 4000) sind unbedeutend, da und dort überraschen
sie durch ein originelles Bild oder eine witzige Wendung. Freier
entfaltet sich sein Talent schon in seinen Sprüchen (etwa 1800), die in
ihren kurzen Reimpaaren klingen, als wären sie mit dem
Schusterhammer zusammengeklopft. Hans Sachs war einer der ersten,
die sich in Nürnberg zu Luther bekannten. Einzigartig zeigt er sich in
seinen (über 1000) Schwänken und Fastnachtsspielen. Sein Humor ist
der Humor der deutschen Seele. Seinen Witz hat er aus seiner
Handwerksburschenzeit bis in sein 82. Jahr hinübergerettet. Er hat es in
seinen Schwänken auf moralische Wirkung abgesehen, aber diese
moralische Wirkung erstickt in einem Gelächter oder tritt zurück hinter
dem Wie der Darstellung. Wir nehmen die Menschen aus seiner Hand
entgegen wie aus Gottes Hand: so wie sie sind: gut und böse. Wie
langweilig wäre die Welt, wenn alle Menschen brav wären und alle
eine moralische, einheitliche graue Tugenduniform trügen. (Gott selber
würde sich zu Tode langweilen und kurz vor seinem Tode noch den

Teufel neu erschaffen.) Wenn es nur noch Hasen auf der Welt gäbe und
keinen Fuchs mehr, der den Hasen frißt, und keinen Jäger, der sie beide
schießt und sich den Hasen braten läßt! Dies nur nebenbei zu Hans
Sachs.
* * * * *
Die Welt
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 37
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.