Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde | Page 4

Klabund
Als er 1217 dem
Hofleben für immer den Rücken wandte, und auf sein kleines Gut heim
zu Weib und Kind ritt, vollzog er eine symbolische Handlung. Er
kehrte wirklich heim: zu sich, in sich. Er hatte die höfische Minne, die
schon einen eigenen Komment entwickelte, dessen Verstöße
unnachsichtlich geahndet wurden, von Herzen satt und sehnte sich nach
einem einfachen, ungezierten Wort aus unverzerrtem Frauenmund.
Nach Lippen, die ohne Anfragung einer Etikette auf den seinen lagen,
nach einem Herzen, das ihm herzlich zugetan war. Nach einem Kinde,
das nicht »Fräulein« oder »junger Herr« tituliert wurde, sondern mit
dem er reiten und jagen und spielen durfte wie mit sich selbst. Er hatte
1200-1210 in 24810 Versen im »Parzival« den Ritterroman der
Deutschen geschaffen, er hatte ihnen den Spiegel vorgehalten. Aber es
war schon eine vergangene edlere Zeit, die sich in ihm spiegelte. Der
Dichter ist oft nur der Vollstrecker des letzten Willens einer Epoche,
der er schon längst nicht mehr angehört. Der Stoff ist französischen und
provenzalischen Vorbildern entnommen. Die Idee der Erlösung:
christlich. Aber der Leidens- und Freudensweg, den Parzival gehen
muß, seine Entwicklung vom ahnungsvollen, aber ahnungslosen Kind
zum seiner Seele bewußten Mann ist ganz Wolframsche Prägung. Er ist
den Weg des Knaben Parzival selbst gegangen.
Gottfried von Straßburg (um 1210), Wolframs größter Zeitgenosse, war

auch sein größter Gegner. Er fand den Parzival dunkel und verworren,
ohne einheitliche Handlung und stellenweise schwer verständlich. Im
Tristan stellte er dem Parzival sein Ritterepos gegenüber: von einer
leidenschaftlichen Klarheit des Themas und der Formulierung und trotz
der Leidenschaft nicht ohne Zierlichkeit und Zartheit. Er hatte von
seinem Standpunkt mit der Beurteilung des Parzival recht. In Wolfram
und Gottfried spitzten sich, wie später bei Goethe und Schiller, zwei
dichterische Typen bis ins Polare zu: der Pathetiker und der Erotiker.
Wolfram-Schiller, das besagt: Kampf, Forderung, Dornenweg,
Verblendung und Erlösung, Gottesminne, Jenseits. Goethe-Gottfried,
das heißt: Sein, Genuß, selbst des Schmerzes, Blumenpfad,
Sonnenblendung, Glanz und Erfüllung: Menschenminne, Diesseits.
* * * * *
Während die von Walter, Gottfried usw. geschaffene Kunstdichtung
entartete, erlebte die deutsche Volksdichtung, das Volkslied und das
Märchen, im 15. und 16. Jahrhundert ihre üppigste Blüte. Die
schönsten der von Herder, Arnim und Brentano, Erk und Böhme später
aufgezeichneten Volkslieder sind damals entstanden. Die Dichter der
von den Gebrüder Grimm gesammelten Kinder- und Hausmärchen
wandelten als Gumpelmänner, Vagabunden und Gott weiß was durch
die deutschen Lande. Ihnen waren Tier und Blume, Berg und Teich wie
Bruder und Schwester vertraut. Sie hatten kein ander Bett als die Erde,
keine andere Decke als die Sternendecke des Himmels. Ein verlassener
Ameisenhaufen war ihr Kopfkissen. Eichhörnchen hüteten ihren Schlaf,
und der war voll von Träumen wie ein Kirschbaum im Juni voll von
Kirschen. Da gaben sich der Froschkönig, die Bremer Stadtmusikanten,
der Teufel mit den drei goldenen Haaren, der Räuberhauptmann, Frau
Holle, Daumerling, Doktor Allwissend, das kluge Schneiderlein, der
Vogel Greif und viele andere wunderliche und seltsame Wesen ihr
heimliches Stelldichein. Und der Vogel Greif schnaufte: »Ich rieche,
rieche Menschenfleisch ...«, aber dann ließ er sich doch von seiner Frau
übertölpeln (wie listig sind die Frauen, wenn sie lügen!). Die neidische
und eitle Königin befragte den Spiegel an der Wand:
Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die schönste im ganzen

Land?
Und der Spiegel antwortete:
Frau Königin, Ihr seid die schönste hier. Aber Sneewittchen über den
Bergen Bei den sieben Zwergen Ist noch tausendmal schöner als Ihr.
Auf einem Lindenbaum saß ein Vogel, der sang in einem fort:
Kywitt, kywitt, wat vörn schöön Vagel bün ick ...
Aber dieser Vogel war kein richtiger Vogel. Es war ein Mensch, der
sich nach seinem Tod in einen Vogel verwandelt hatte. Denn wir
Menschen sterben nicht. Das Volkslied und das Volksmärchen läßt
unsere Seele wandern. Vogel und Blume können wir werden: ja Blume
auf unserem eigenen Grabe, dann kommt wohl die Geliebte, begießt
uns mit Tränen, oder sie pflückt und drückt uns, Veilchen oder Lilie, an
den Busen. Sind wir aber böse, so werden wir verflucht und verzaubert
in Werwölfe. Die Wurzeln von Märchen und Volkslied gehen bis tief in
die heidnische Vorzeit zurück, da des Menschen Frömmigkeit vom
Diesseits, seine Augen von Sonne, Himmel und der weiten, weiten
Welt ganz erfüllt waren. Ihm war der Tod nur eine andere Art des
Lebens. Verwandlung. Eine Tür fällt ins Schloß, und eine andere geht
auf. Auf Tag folgt Nacht, aber wieder Tag. Er war nicht zerrissen in
Leib und Seele. Die waren eins. Die Märchen und Lieder sind so bunt
wie die Natur selbst. Wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte
scheint, so fühlt der Dichter mit allen seinen Kreaturen, auch den
erbärmlichsten. Irgendein armseliger Straßenräuber (der arme
Schwartenhals) steht ihm so nahe wie die zwei Königskinder, die
zueinander nicht kommen konnten, »das Wasser war viel zu tief«.
Goethe ist ohne das deutsche Volkslied, Volksmärchen, Volksepos
nicht zu denken. Er steht auf den
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 37
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.