Der Wendekreis - Zweite Folge | Page 4

Jakob Wasserman
dazu verstanden, durch
Ränke der Fachgenossen und das herausfordernd Neue seiner Methode
wieder vertrieben. Seine Schriften waren totgeschwiegen worden, eine,
Die Erotik in der Schule betitelt, hatte der Staatsanwalt beschlagnahmt.
Eine Zeitlang hatte er sich in würgendem Elend befunden; gerettet hatte
ihn nur der eiserne Wille und trappistische Bedürfnislosigkeit. Endlich
wurde man auf ihn aufmerksam. Ein Berliner Bankkonsortium hatte
das Gut Hochlinden angekauft und das zur Durchführung seines
Projekts notwendige Kapital zur Verfügung gestellt. Der Erfolg
rechtfertigte den damals noch kühnen Versuch.
Es war ein anmutiges Stück Erde, vom Talgrund in Hügelterrassen
aufsteigend, stundenweit von Städten, mit Wiesen, Wald, Fruchtgärten,
Wässern, Brunnen, Ställen, Meiereien, Tennisplätzen und zierlich

verstreuten Häusern. Kaum ein Jahr verging, ohne daß die Wohn- und
Schulgebäude nicht vermehrt und vergrößert werden mußten.
* * * * *
An einem regnerischen Sonntagnachmittag hatte sich eine Anzahl
Knaben im Spielsaal versammelt, der das Erdgeschoß eines großen
Pavillons einnahm. Zuerst wurden die Schachtische besetzt; um die
Spieler gruppierten sich Zuschauer, die alsbald lebhafte Kritik an den
Zügen übten. Der allgemeine Lärm verschlang ihre Stimmen.
Belustigendes Einzelnes löste sich aus dem Getöse, ein horazischer
Vers; eine chemische Formel; Streit über den Tonnengehalt eines neuen
Ozeandampfers; Gelächter über einen Witz; Nachfrage um ein
verlorenes Messer. Ein Rotkopf wettete, daß er auf den Händen gehen
könne; als er das Kunststück zum Besten gab, erntete er Applaus. Der
Ruhm stachelte einen andern; er behauptete, Bauchredner zu sein, aber
da er es nur zu quiekenden Mißtönen brachte, wurde er verhöhnt. Zu
hören waren Stimmen in der Fistel und im prahlerischen Baß wie
Durcheinander von Vogelgezwitscher und Bärengebrumm. Ein Präfekt
rief vom offenen Fenster einen Namen herein; dann verirrte sich eine
Schwalbe in den Raum und erzwang durch ihren ängstlichen Kreuzflug
Sekunden neugieriger Stille.
Als es dämmerte, kam Doktor von der Leyen mit mehreren seiner
Kameradschaft; sie hatten trotz des schlechten Wetters einen Gang
durch den Wald gemacht, Mathys, Ulschitzky und Kurt Fink. Oberlin
hatte nicht daran teilgenommen; er hatte einen Brief an seine Mutter,
die Ratsherrin, geschrieben und war erst vor kurzem in den Saal
gekommen. Er saß am Klavier und spielte, unbekümmert um den
Tumult, mit suchenden Fingern eine Melodie aus Carmen. Da trat Kurt
Fink neben ihn, übermütig, händelsüchtig, und schnarrte in seinem
Berliner Dialekt: »Pfui Deibel, das is ja, als ob deine Großmutter aus
dem Grabe winselt«. Oberlin stutzte, spielte aber weiter, als hätte er
nichts gehört. Kurt Fink erboste sich, fuhr mit der Linken über die
ganze Tastatur, was ein kreischendes, dann dröhnendes Saitengeklirr
hervorbrachte, schob dabei Dietrichs Hände weg und rief: »Schluß mit
dem Schmachtfetzen.«

Oberlin erhob sich, und sie standen Aug in Auge. Da war etwas von der
Feindschaft der Stämme drin; Norden gegen Süden. Die Knaben
stellten sich im Kreis um Beide. Solche Auftritte waren selten. Fink
spürte, daß er Mißbilligung erweckte und zu weit gegangen war; er
brach in Lachen aus, das aber nichts gutmachte, sondern beleidigend
klang. Oberlin verfärbte sich. Ein verwirrter und zorniger Blick
musterte die Gesichter; er hätte sich am liebsten auf Fink gestürzt, aber
die Anwesenheit Lucians lähmte ihn. Er senkte den Kopf, und als er die
Augen wieder emporrichtete, begegneten sie denen von der Leyens, die
ihn fragend oder forschend anschauten. Er mißverstand den Ausdruck
und glaubte, daß er Rechenschaft geben solle; seine Verwirrung wuchs,
und sich an Lucian wendend, stieß er trotzig hervor: »Er soll aufhören
zu lachen«. Das war kindlich, und auf einigen Gesichtern zeigte sich
Grinsen.
»Genug des Unsinns, Kurt«, mischte sich von der Leyen ein und legte
die schwere Hand auf Oberlins Haupt. Die Knaben traten auseinander.
Kurt Fink hatte seine Absicht erreicht, er nahm am Flügel Platz und
begann einen Gassenhauer zu trommeln, den er mit parodistischem
Krähen begleitete.
»Und wir beide? wollen wir nicht ein bißchen miteinander plaudern?«
fragte von der Leyen den noch immer befangenen Dietrich.
»Gern, wenn du Lust hast«, antwortete er überrascht.
Eine Weile gingen sie im Saal auf und ab, der sich langsam leerte. Von
der Leyen, den Knaben um die Höhe der Stirn überragend, hatte den
Arm um seine Schulter geschlungen. Nachher setzten sie sich in eine
Ecke, und das Gespräch wurde intensiver. Wenn Oberlin redete, hing
sein offener, voller, beglückter Blick an dem Gesicht des Mannes;
wenn dieser das Wort ergriff, bog er mit über den Knien verfalteten
Händen den schmalen Körper nach vorn, und je wichtiger ihm das zu
Sagende erschien, je gedämpfter klang seine Stimme. Erst als die
Glocke zum Abendessen läutete, erhoben sie sich.
* * * * *

Von da ab verging kein Tag ohne ein solches Zusammensein von
Lehrer und Schüler. Da der Unterricht, sofern es das Wetter irgend
zuließ, im Freien abgehalten wurde, beim Lagern auf Wiesen oder im
Wald und auf Wanderungen, boten sich die Gelegenheiten ungesucht.
In dieser Zeit war Oberlin gegen die Kameraden schweigsam, auch
gegen Mathys und Justus Richter, einen Heidelberger Professorssohn,
an
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