Der Wendekreis - Zweite Folge | Page 5

Jakob Wasserman
den er sich angeschlossen und dessen aufrichtige Art ihm Sympathie
eingeflößt. Nur in seinen Mienen verriet sich eine nicht aussetzende
Erregung.
Schwer war die Scheu vor dem Mann in ergrauenden Haaren zu
überwinden gewesen, vor seiner Würde, seinem Wissen. Doch wenn er
sprach, in seiner leisen, horchenden, sinnenden Art, verschwand Würde
und Wissen, das ergraute Haar, das faltige Gesicht.
Was den Knaben am mächtigsten anrührte, daß er bis in die Knie
gebannt war, gebannt emporsah, war der unergründlich tiefe, geistige
Ernst. Das schnitt durch und durch, wie Eisluft von einem Gletscher.
Das Lächeln, das heitere Wort, die herzliche Gebärde beleuchteten den
Ernst nur, sie verdeckten ihn nicht.
Sich ihm zu nähern, war, als ob man sich erfrechte. Und doch war er
selbst herangetreten und hatte einem den Arm um die Schultern
geschlungen. Es ehrte unermeßlich. Jeder einzelne Blutstropfen
unterwarf sich. Die freiwillige, enthusiastische Unterwerfung war
seliger Rausch.
Er stand ganz oben in Dietrichs Augen; befehlender Mensch,
bestimmender Geist. Sein Wort glich einer Mauer, an die man sich
lehnt und die Sicherheit gewährt. Die heimlichen und feurigen
Gedanken von fünfundachtzig Knaben folgten ihm in seine
wolkenhafte Höhe, und wer weiß wie vieler noch von draußen. Und er
war herangetreten, um den Arm um seine Schultern zu schlingen.
Schauderndes Gefühl.
Dietrich hatte nie einen gegenwärtigen Zustand an einem vergangenen
oder einem möglichen gemessen. Es hatte ihm immer geschienen, daß
alles so war, wie es sein mußte; es anders zu wünschen, war ihm nicht

in den Sinn gekommen. Jetzt sah er sich um wie einer, der aus Träumen
erwacht, in denen er gedemütigt worden ist, ohne es zu merken; er
erwacht verwundert und beschämt. Von der Leyens bloße Nähe
bewirkte, daß er ungern zurückdachte; Heimat und Vaterhaus waren
öde, weil dort keiner war, zu dem man bewundernd emporsehen
konnte.
Das Du, das ihm erlaubt war, vermehrte die Ehrfurcht und Dankbarkeit
nur. Es war wie ein überkostbares Geschenk, das man selten zu
gebrauchen wagt. Er war plötzlich voller Zweifel in bezug auf sich
selbst. Früher wäre es ihm fern gewesen, sich zu fragen, ob das, was er
gesagt, getan, wie er sich hielt, sich gab, richtig und gut war. Jetzt
prüfte er sich innen und außen; ein übereiltes Wort quälte ihn; ein
begangener Fehler machte ihn in der Erinnerung erbleichen; er spürte
bedrückend das Langsame seiner Auffassung, das träge Beharren in
seiner Natur; er war voll Unruhe, voll brennenden geheimen Eifers,
voll Angst, nicht erfüllen zu können, was von ihm erwartet wurde; was
Er erwartete. Gab er ihm denn so viel Vorsprung, daß er so freundlich
war? Sammelte er Forderungen in der Stille, um ihm dann seine
Unzulänglichkeit desto bündiger zu beweisen? Warum war er
freundlich? Warum redete er wie zu einem Gefährten? Vielleicht
überschätzte er ihn; Oberlin zitterte vor dem Tag, der ihn, Dietrich, in
seiner wahren Gestalt zeigen mußte, seiner groben, trüben,
mißgebildeten Beschaffenheit.
Er war sich unwert. Er gefiel sich nicht. Dennoch wollte er Ihm
gefallen, um jeden Preis. Kein Opfer war zu hart; nur Ihn nicht
enttäuschen, nur nicht zurückgestoßen werden, da man doch, aus
unerklärlichen Gründen freilich, einmal vorgezogen war; nur nicht
wieder ein Unbeachteter sein, verdeckt, versteckt unter den Andern, nur
nicht wieder hinab in die gefühllose Leere, wo kein Glanz war, kein
Gerufenwerden, kein Arm-in-Arm-Wandeln, kein Gehörtwerden. Er
hätte beten mögen darum.
Bisweilen warf er einen musternden Blick in den Spiegel und haßte
sein Gesicht, weil es nicht edler und bedeutender war, nahm ein schwer
verständliches Buch zur Hand und haßte sein Gehirn, weil es nicht

leichter begriff. Er schrieb seinen Namen auf die Löschblätter und fand
ihn häßlich, nichtssagend, plump. Alles war Ungenügen, Verzagen,
Kriechen im Schatten; alles Hunger und Begier nach Seinem Wort,
Seinem Einverständnis, Seiner Billigung.
War er in Lucians Gesellschaft, so blühte das Leben. Er hatte Pläne, er
wollte etwas werden und etwas können. Nach und nach faßte er Mut zu
Fragen, die ohne Wortkleid in ihm geschlummert hatten, über
Menschen und alltägliche Vorfälle. In der Freude am Sichüberliefern
las er ihm Briefe seiner Mutter vor. Erzählte vom Vater, von
abendlichen Gängen ins Gebirge, von der Ermatinger Villa am
Bodensee, wo die Familie den Sommer zu verbringen pflegte, von
Regatten, Wettschwimmen, Fischpartien. Es gab harmlose Erlebnisse,
die er mit lebhafter Eindringlichkeit vortrug. Sie sollten bezeugen und
bezeugten auch einen Schatz von bereits gesammelten Erfahrungen.
Lucian von der Leyen nahm es in diesem seriösen Sinn auf. Unter
anderem berichtete er von einer Katze und einem Hund, die er seit ihrer
Geburt besessen; wie die Tiere sich zur Verwunderung aller
miteinander angefreundet und schließlich unzertrennlich gewesen seien;
stets um ihn und mit ihm, sogar die Katze folgte treulich bis zur
Bootshütte; eines Nachts weckt ihn ein Schrei, wie er nie einen
vernommen; er lauscht, wirft sich in Kleider, eilt ins Freie; wieder ein
Schrei, als ob ein Mensch erstochen würde; sogleich denkt er an die
Katze, er
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