Der Wendekreis - Zweite Folge | Page 3

Jakob Wasserman
entwickelte, daß der Kultus, den die Gesellschaft den
geistigen Heroen weihe, auf fortwuchernder Lüge beruhe. Er wünsche,
daß sich die Jugend, seine Jugend, von dieser Lüge lossage; sie sähe
wie Trägheit und faules Mittun aus; sie sei wie der katholische Ablaß
und absolviere von dem Trieb zur höchsten Leistung. Wem von
Kindesbeinen an ins Gehirn gehämmert werde, daß das Große bereits
getan sei, dem bleibe im besten Fall nur demütige Nachfolge übrig, im
schlimmsten der gedankenlose Trost der sozialen Wanzen. Der
Gespensterwahn müsse von der Erde vertilgt werden; jede Zeit habe
ihre eigenen Aufgaben, unabhängig von aller andern Zeit, jeder in ihr
Geborene habe seine eigene Sendung; keinem, der da lebe, sei die
oberste Staffel verwehrt, kein Lorbeer sei ein für alle Mal vergeben, die
Vergottung der Gewesenen mache die blühende Gegenwart zur
Katakombe. »Nicht Nachfolger sollt ihr sein, sondern Vorläufer,« rief
er aus; »verlacht die, die von euch die Andacht vor dem Fetisch fordern.
Kniet nicht nieder um zu beten, wo es besser ist, Gerümpel in die
Rumpelkammer zu werfen.«
Wie sich denken ließ, wurde die Philippika mit Jubel aufgenommen,
und ein junger Westpreuße, Peter Ulschitzky, ging noch einen Schritt
weiter im ungestümen Verlangen und wollte den Bildersturm gleich in
Tat umsetzen, Klassiker verbannen, die Anerkannten mit dem Interdikt
belegen. Dann meldete sich Georg Mathys zum Wort; er war kühn
genug, einen Ausspruch seines Vaters zu zitieren, der gesagt hatte:
»Hüte dich vor denen, die Häuser bauen wollen und damit anfangen,
die Wälder zu verbrennen und die Steinbrüche zu verschütten.« Er
fragte, ob auch jeder Vorläufer befähigt sei, einen Weg zu finden, und
ob nicht eine greuliche Verwirrung zu befürchten sei, wenn alle
vorausrennten und keiner mehr warten wolle, wohin man käme? Und

ob mit dem Gerümpel nicht viel Nützliches und Tüchtiges in die
Rumpelkammer geriete? Und ob es für die Mehrzahl der Menschen
nicht dienlicher sei, Geschaffenes zu verehren, als frech und
pfuscherhaft sich anzumaßen, Neues zu schaffen?
Er stand im Ruf eines Reaktionärs, und Doktor von der Leyen nannte
ihn bisweilen den Basler Hemmschuh. Aber er war ihm deshalb nicht
gram; es behagte ihm, wenn die Meinungen scharf gegeneinander
stießen und bot selbst das schöne Beispiel der Duldsamkeit. Leben
wollte er um sich wissen, und Leben hieß Aufruhr, Frage, Widerpart.
Aus Georg Mathys redete, ohne daß er dessen vielleicht inne wurde, die
zusammenfassende Kraft eines konservativen Gemeinwesens, die alte
Polis mit bewahrender Sitte und beruhigter Form. Da war er verwurzelt,
und mochten die Zweige noch so weit und wild langen, das Erdreich
hielt ihn in unabänderlicher Festigkeit. Was ihn von außen her
veranlaßt hatte, sich gegen die wühlerische Flut zu stemmen, war nur
ein Blick gewesen, der sich zu Dietrich Oberlin verirrt hatte. Das Bild
blieb lange. Oberlin, mitten unter den Knaben sitzend, war verzaubert;
seine Augen hingen in schwärmerischer Hingabe an den Lippen des
Lehrers, um jeden Hauch, jede Silbe einzufangen. Die jüngerhaft
leuchtende Hingabe zu spüren, beängstigte Mathys; es war etwas darin
von der leidenschaftlichen Fruchtbarkeit des nie bepflügten Humus, der
Unkrautsamen mit gleicher Gier empfängt wie edlen.
* * * * *
Lucian von der Leyen war ein hagerer Mann über Mittelgröße im Alter
von ungefähr fünfzig Jahren. Er gehörte zu den streitbaren Erziehern
und wirkte in Wort und Schrift für seine reformatorischen Ideen
unablässig. Er hatte viel Anfeindung erfahren; Verleumdung lag stets
auf der Lauer. Es beirrte ihn nicht; je heftiger die Gegnerschaften
waren, je höher trug er den Kopf.
Seine Züge hatten eine strenge Prägung; in dem blassen, knochigen
Gesicht steckten kleine fahle zumeist erloschene Augen, die das
Gesicht noch finsterer machten. Im Verkehr mit Erwachsenen und
Fertigen, Leuten von Beruf und Amt war er wortkarg, unliebenswürdig,

ja abstoßend; wenn er mit seinen Zöglingen sprach, strahlten diese
selben Augen eine berückende Güte aus, und die von der bitteren
Geschlossenheit des Mundes herrührenden scharfen und bösen Linien
wurden weich.
Es war ihm Werk. Jeder Schritt Entdeckung, jeder Schritt Wagnis. Sich
der schlimmen Erfahrungen zu erwehren, verlangte einen Charakter
von Stahl. Kein Vertrauen ohne äußerste Wachsamkeit; kein Gelingen
ohne beständigen Kampf. Kampf mit den Mächten draußen, mit den
Mächten drinnen; Kampf wider die Gewöhnung, wider die
Verstocktheit. Die Gesellschaft in wartendem Argwohn, bereit, den
Stein zu schleudern, den ihr Verrat und Mißgunst in die Hand schob;
der Staat in abgefeilschter Duldung; Zweifel von allen Seiten; die
Bürde der Verantwortung erdrückend; Furcht vor Untreue dauernde
Qual; und immer wieder Verlust des Menschen, dem man Gestalt
verliehen und Richtung gewiesen, der einem vielleicht als Geschaffenes
teuer war, als Bestätigung unentbehrlich; er löste sich los, verlor sich,
verging. Es war wie bei einer Leydener Flasche: ein Überspringen von
wunderbar gleißenden Funken, dem Element entlockt, eine bewegliche
Kette von Licht; aber zwischen Funken und Funken Ur-Finsternis.
Von seiner Vergangenheit war wenig bekannt. Bis zu seinem
vierzigsten Jahr hatte er ein unstetes Wanderleben geführt, feste
Anstellung verschmähend, oder wenn er sich
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