Der Wendekreis - Zweite Folge | Page 7

Jakob Wasserman
sehr. Er h?tte nicht kühner begehren k?nnen, als es nun die Wirklichkeit schenkte.
Manchmal schaute er in das erschlossene Jünglingsgesicht und dachte froh: ein Schüler! Was lag da nicht drin an Gew?hr, an Unverg?nglichem! So konnte es also sein! Manchmal auch erschrak er: bin ich dem gewachsen? Da war kein Einschr?nken und Str?uben; der volle Akkord aus der Tiefe, glockenklar.
Zarteste Obliegenheiten erwuchsen daraus. Selbstprüfung, Selbstbewachung; ein Führen wie an seidenen F?den. Er wurde gespannter, elastischer, beredter. Im Ma?e wie es ihn ergriff, erfuhr er die hundertmal erfahrene Angst von neuem: Angst vor Verlust, vor der Brüchigkeit, vor der Zeit und dem r?uberischen Geschick. Auch dieser Ikarus wird mir in den Abgrund stürzen, sagte er sich.
Indessen wurden die andern Knaben, namentlich die in der Kameradschaft, ungeduldig. Die Bevorzugung des hübschen, aber nach dem allgemeinen Urteil etwas simplen Oberlin ver?rgerte viele. Es hatte stets Begünstigte gegeben, doch so weit war es nie gediehen. W?hrend aber die Unzufriedenheit in den meisten nur still g?rte, auch durch ein Wort oder L?cheln von der Leyens leicht zu beschwichtigen war, übte Kurt Fink h?mische Kritik. Dabei blieb es nicht; er verbündete sich mit dem Pr?fekten Rottmann, und das Einverst?ndnis gewann herausfordernden Charakter; denn zwischen Rottmann und von der Leyen bestand eine ernstliche Verstimmung. In einer Frage von prinzipieller Wichtigkeit hatte der Pr?fekt dem Schulleiter Widerpart geleistet und im Verlauf einer scharfen Auseinandersetzung sogar mit der ?ffentlichkeit gedroht.
Von der Leyen hatte die Verfügung erlassen, die gemeinsamen Leibesübungen sollten v?llig nackt, auch ohne die übliche Lendenhose vorgenommen werden. Er nannte dies Kleidungsstück unzüchtig und sagte, es versetze in den Zustand des Ausgezogenseins, nicht des Nacktseins. Die Knaben waren auf Doktor von der Leyens Seite und erkl?rten sich bei der Schulversammlung einhellig für ihn; danach aber hatte Rottmann eine Gegenpartei zu bilden vermocht, die er heimlich aufwiegelte. Er pochte auf seine Verwandtschaft mit einem der Geldgeber der Anstalt, war aber dabei ein armer Teufel, aus welchem Grund sich auch von der Leyen nicht entschlie?en konnte, ihn brotlos zu machen.
?H?rt mal, Kinder, so geht das nicht weiter?, polterte eines Abends Justus Richter. ?Rottmann schleicht im Schlafsaal herum, wenn man müde ist, spioniert und st?nkert. Ich erlaube nicht, da? hier gest?nkert wird. Hier hat gute Luft zu sein, basta. Was hat er denn von dir gewollt, Oberlin, als er dich beiseite nahm??
Dietrich antwortete: ?Ich habe ihn nicht verstanden. Er tat so geheimnisvoll. Er sagte, Lucian beginge Unrecht an sich und an uns. Seine ideale Absicht w?re nicht zu bezweifeln, aber er w?re sich nicht klar darüber, da? er widernatürliche Triebe in uns wecke.?
Richter, der schon im Bett lag, schnellte auf. ?O das Schwein!? rief er. ?Hier gelob ichs, wenn er wieder das Lokal betritt, werf ich ihn die Treppe hinunter. Was für ein schmutziges Schwein. Und was hast du ihm erwidert??
?Ja, ich wu?te nicht,? sagte Dietrich z?gernd, ?ich wu?te garnicht, was er meinte. Was sind denn das: widernatürliche Triebe??
Herzliches Gel?chter folgte der Frage. Eine Weile noch wurde Dietrich geneckt, dann drehte der Zimmer?lteste das Licht ab. Mehrere schimpften, aber zehn Minuten darauf war rhythmisch durchatmete Ruhe. Dietrich allein konnte lange keinen Schlaf finden. Mitten in der Nacht erhob er sich. Mattes Licht klebte an den Scheiben; er sah die schlummernden Gesichter der Kameraden, einige glatt und heiter, einige wie im Schmerz verzogen; ein Seufzen von irgendwo, ein geflüsterter Laut wieder; drau?en rauschten B?ume, es war so schwül, so eigen; auf den Zehen schlich er zum Fenster, ?ffnete es und beugte sich hinaus, weit, durstig, beklommen, tr?umend halb, die Welt war wie ein Wurm, der im Kriechen müd geworden ist und regungslos liegt, der Himmel oben wie eine zugemachte Tür. ?Was tust du, Oberlin?? fragte eine leise Stimme.
Dietrich kehrte sich betroffen um. Es war Georg Mathys, der mit aufs Kissen gestütztem Arm ihn still forschend betrachtete.
Des Morgens um sieben Uhr war Wettlauf in der gro?en L?ngshalle angesagt. Als im goldigen Frühlicht die sechzehn-, siebzehn-, neunzehnj?hrigen nackten Leiber sich geschmeidig durcheinander bewegten, hatten sie mit den Kleidern das eitel Unterschiedene abgestreift und waren sorglos spielende Fische geworden. Oberlin, von j?hem Mutwillensrausch erfa?t, führte einen Tanz aus, glitt von einem Knaben zum andern und verübte Schabernack, entschlüpfte gewandt, wenn sie ihn packen wollten, kletterte schlie?lich waghalsig auf einen der Tragbalken, ri? einen Glycinienzweig ab und flocht sich ihn um die Stirn. Seht, Oberlin ist nicht bei Verstand, hie? es; aber seine Ausgelassenheit war ansteckend.
Die Gruppen traten zum Lauf an. Zuerst die Kameradschaft des Pr?fekten Kre?. Es gab harten Kampf, von Zurufen und H?ndeklatschen begleitet. Ein langbeiniger Junge war dem Ziel bereits nah, da überholte ihn der dickliche Wiener Meerheim, drehte sich, als er gesiegt hatte, um und machte in der Atemlosigkeit eine so komische Triumphgrimasse, da? das Gel?chter darüber die Luft erschütterte.
Die Leyensche Kameradschaft hatte die besten L?ufer. Lucian beteiligte sich selbst, was den Ehrgeiz hochtrieb. Er hatte einen mageren Pantherk?rper, gestreckt, muskul?s, ?u?erst gehorsam.
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