Dach. Rechter Hand im Flur war ein Backofen, davor kniete
eine Magd, von schwacher Glut beschienen, und schob mit einer
Stange die fertigen Brote von den heißen Ziegeln. An der Treppe oben
stand das Weib des Mannes; sie ahnte noch nichts und trällerte ein Lied.
Zu ihren Füßen spielten zwei Kätzchen. Draußen war es feucht, das
Pflaster glänzte, man hörte den Fluß rauschen, und bisweilen ging ein
Mensch an dem offenen Tor vorüber, gebückt und eilig. Der Mann
neben mir zog in seiner Gemütserregung ein blaues, zerrissenes, wie
ein Schachbrett mit Quadraten bedecktes Tuch aus der Manteltasche
und trocknete sich die Stirn damit. Das Tuch war mir in dem
Augenblick etwas unbeschreiblich Teures; es läßt sich wirklich nicht
erklären, warum, aber alles war in ihm drin, der ganze Mensch.«
Er senkte ein paar Sekunden lang den Kopf und fuhr fort: »So ist es mit
Schachteln, die bei armen Dienstboten in der Kommode liegen und mit
Erinnerungszeichen gefüllt sind; und mit geborstenen Steintreppen an
den Toren; und mit Photographien an den Wänden; mit einer Kerze, die
nachts irgendwo an einem Fenster brennt, und mit dem Brett, das der
Tischler in der Werkstatt hobelt. Mit den Fußspuren im Weg ist es so
und mit den Brücken über die Flüsse, aber besonders mit allem, was
durch Menschenhände geht und auf Menschen Einfluß hat. Ich habe
den Ring am Finger einer gestorbenen Frau gesehen; von wie vielem
der wußte! Auf einer Straße, durch die ich ging, lag ein zerrissener
Vorhang, den man aus einem ausgeraubten Haus geworfen hatte;
wieviel Leben daran klebte! An die Dinge geben sich ja die Menschen
hin, sie sperren ihre Seelen in sie hinein; sie sind ihr Besitz; und wenn
nicht Besitz, dann das Ziel ihrer Sehnsucht. In einer andern Stadt fand
ich in einer kalten Winternacht einen acht- oder neunjährigen Knaben
halberfroren auf einer Bank. Ich trug ihn zu einem nahegelegenen
Spital, dort wurde er der Lumpen entkleidet, die ihm am Leibe klebten,
und es wurde ihm heiße Milch eingeflößt, da er nicht bloß erfroren,
sondern auch bis auf die Knochen verhungert war. Nachdem man den
Körper notdürftig von Schmutz und Unrat gesäubert hatte, steckte man
ihn ins Bett. Er lag bewußtlos, und ich blieb die Nacht über bei ihm,
man hatte es mir erlaubt. Als er nun die Augen aufschlug und man ihn
fragte, wer er sei und woher er komme, vermochte er nicht zu
antworten. Er sah beständig die weißen Kissen an, tastete beständig mit
der Hand über das weiße Linnen, das ihn bedeckte, und in seinen
Mienen war ein so maßloses Staunen, eine so maßlose freudige
Bestürzung, daß man sofort begriff, er war Zeit seines Lebens nie in
einem Bett gelegen, und erst recht nicht in einem solchen Bett. Er
glaubte allen Ernstes, daß er sich im Jenseits befand, und das einzige,
was er sprechen konnte, war: so weiß; so sauber; so weiß; und wieder,
andächtig, ungläubig, völlig verzückt: so weiß; Herr Jesus, so weiß.«
Der Unbekannte hielt inne und sann mit abgelöster Heiterkeit im
Gesicht vor sich hin. Dann sprach er: »In der nämlichen Stadt fügte es
sich, daß ich mich eines brustkranken Mädchens annehmen sollte, das
im Laden einer Friseurin bedienstet war. Ein Kind von sechzehn Jahren,
ich erinnere mich noch des Namens; Angelika hieß sie. Ihre Herrin
hatte sie aus dem Waisenhaus genommen, sie war ein Findling; ein
munteres und zärtliches Geschöpf, von allen wohlgelitten und
ungemein geschickt in den Verrichtungen, die man sie gelehrt hatte.
Die Herrin sah aber bald, daß das Übel rapid wuchs; der Arzt, den sie
zu Rate zog, gab ihr wenig Hoffnung und empfahl ihr, das Mädchen
schleunig in eine Heilanstalt zu bringen. Sie versuchte es, doch es war
umsonst; die Behörden wiesen sie ab, die humanitären Vereine wiesen
sie ab, die reichen Leute, bei denen sie Hilfe suchte, wiesen sie
gleichfalls ab. Sie war eine robuste Frau, nichts weniger als
gefühlsselig, aber sie liebte das Mädchen wie ein eigenes Kind, und die
Aussichtslosigkeit, eine Pflegestätte für sie zu finden, erbitterte sie.
Angelika indessen ahnte nichts davon, daß ihr Geschick ein so nahes
Todesurteil über sie verhängt hatte. Sie lachte und scherzte den ganzen
Tag, und besonders war sie darauf versessen, sich zu schmücken. In
diesem Punkt war sie geradezu erfinderisch; ihre billigen Gewänder
sahen aus wie frisch aus dem Magazin; die kleinen Geschenke, die sie
von den Damen erhielt, Bänder, ein Stückchen Stoff, eine silberne
Nadel, eine Halskrause, waren Kostbarkeiten für sie, und sie wußte sie
anmutig und geschmackvoll zu verwenden. Aber ich will Ihnen
erzählen, wie ich dazu kam, mit eigenen Augen zu sehen, wie glühend
diese jungen Hände die Dinge umklammerten, die ihr Ausdruck und
Abbild des Lebens waren. Es ist eine unbedeutende Begebenheit, im
großen Ring betrachtet, aber sie hat mir viel zu denken gegeben. Die
Friseurin hatte noch ein zweites Lehrmädchen, und diese war nach
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