Der Wendekreis - Erste Folge | Page 7

Jakob Wasserman
den Opiumhöhlen von Chicago gelebt und unter
den Auswanderern auf Ellis-Island als Lazarettgehilfe gedient. Daß er
ein Jahr darauf mit einer Goldsucher-Expedition nach Alaska gegangen
sei; von dort nach Japan; von dort nach China. Daß er von Peking aus
ins Innere, den Fluß entlang, gewandert sei, und mit einem
tibetanischen Lama nach Madjura, der heiligen Siedlung mit dem
Lilienteich und den Türmen aus Götterbildern; immer unter den
Menschen, dicht bei den Menschen, immer einsam, dicht bei sich, von
Tag zu Tag einsamer, von Tag zu Tag reicher, beladen mit
Reichtümern, und immer noch durstig. Er erzählte weiter. Das alles war
erst Untermalung; Figur und Umriß zeigten sich später.
Er sprach von Schiffen und Dschunken; vom Himmel, vom Meer; von
Wäldern und Gärten; von Tempeln und Festen; von Städten und
Wüsteneien; von Heiligen und von Verbrechern; von religiöser
Versunkenheit und weltlicher Mühsal; von Aufruhr und Unterdrückung,
von innigem Werkfleiß und liebender Tat. Vom Schicksal und
abermals vom Schicksal, seinem Wechsel, seinem Grauen, seiner
Herrlichkeit, seiner in alle Seelen gewirkten Vielfältigkeit.
Er hatte erkannt; vom Erkennen war er voll. Er hatte Kräfte in sich
geschlürft mit Begierde. Er hatte die Bindungen und Verflechtungen
des Menschheitskörpers sehen gelernt wie man die Lagerungen der
Muskeln und Adern an einem hautlosen Leib wahrnimmt. Er war
vertraut mit dem Fühlen und Denken aller Verlorenen, Irrenden,
Geplagten und Duldenden an allen Enden und Ecken der Erde. Er
kannte die Lasterhaften, die Mörder, die Diebe, die Hehler, die
Geknechteten, die Einfältigen, die Erglühten, die stummen
Unverdrossenen. Für ihn zogen sich Fäden von der Küste des indischen
Ozeans bis zu den Palästen europäischer Metropolen. Alles war ein

einziger, bebender, heißer Leib; alles wie die verschlungenen Zweige
eines ungeheuren Baums. Er drückte dergleichen nicht aus, dazu war er
nicht imstande, aber es lag in seinem Aug und Wesen.
Er war, vom Osten her, durch den Krieg gegangen, unangefochten,
bewillkommt, von schonender Luft und schonenden Händen umgeben,
und wo er war, schien er für die andern von jeher gewesen zu sein. Er
hatte die Schlachtfelder durchzogen, die Brandstätten, das blutbesudelte
Land, hüben und drüben, das zermalmte, seufzende Land. Er war
Zeuge geworden von Plünderung und Metzelei, Hunger und Haß,
Wahnsinn und Lüge, Bestialität und Verzweiflung. Aber auch von
verborgenem Heldentum und dem kleinen Glück der Genügsamen, von
Opferdienst und Wundern der Vollbringung. Er wurde nicht müde; er
durfte es nicht werden, denn er sah noch kein Ziel.
Was mag das Ziel sein? ging es Mörner durch den Sinn, indes er
lauschte und mitlebte; in dem unendlichen Zirkel der Bilder und
Vorstellungen dachte er plötzlich an Buddhas Wiese, an die seligen
Gefilde der letzten Entäußerung, des letzten Wissens, des letzten
Friedens, der letzten Inkarnation, Höhenscheide zwischen irdischer und
himmlischer Welt.
Wußte er nicht, wohin er ging, der überaus Seltsame? Darüber war kein
Zweifel, daß er sich übernatürliche Fähigkeiten angeeignet hatte, das
heißt, von denen aus betrachtet, die noch nicht an die Natur reichen: Er
hatte sie erworben, weil sein Einsatz übermenschlich war, das heißt,
von denen aus betrachtet, die noch nicht ans Menschliche reichen.
* * * * *
»Ich durfte mir keinen Zweck setzen, so wie ich mich nicht binden
durfte,« sagte der Unbekannte; »im Zweck liegt schon das Übel; der
Zweck hat die Welt so ins Fieber gebracht. Nein, ich durfte mich
niemals binden, sonst hätte ich den Zusammenhang verloren. Ich mußte
immer wieder Abschied nehmen, immer wieder brechen, sonst hätte ich
mich versäumt und die wichtige Stunde. Die wichtige Stunde ist die
nach der Überwindung und dem Entschluß. Da ist die Kraft ohne Maß
und Grenzen.«

Die Stimme blieb gleich nüchtern, gleich karg, gleich unbetont; gleich
höflich die Haltung, sparsam die Gebärde. Oft spielte ein Lächeln um
die Lippen, die ungealtert waren, indes sich andere Teile des Gesichts
eigentümlich verwittert zeigten, besonders die Stirn und die
Schläfengruben; auch das Haar war an manchen Stellen silbrig
angegraut. Das scheue Lächeln schien die Versicherung zu enthalten,
daß die Distanz nicht überschritten werden würde, die der Andere
vorschrieb. Der unerhobene Ton aber, die zarte, rücksichtsvolle
Bemühung um das äußerlich Konventionelle und Gestattete verlieh den
Worten eine vollkommene Durchsichtigkeit, und Gestalt um Gestalt,
Vorgang um Vorgang entfalteten sich so rein, als lägen Schall und
Stimme nicht mehr vermittelnd dazwischen.
»Ich liebe die Dinge,« sagte die höfliche Stimme; »ich liebe sie
manchmal bis zur Unvergeßbarkeit; sie sind oft wie Laternen über dem
Schicksal des einzelnen Menschen aufgehängt. Ich weiß nicht, ob das
eine Schwäche von mir ist, aber ich kann mich dem nicht entziehen. Ich
bin mit einem Mann gegangen, in einer kleinen Stadt, und es war
Abend. Er hatte Furcht, allein zu gehen, weil die Frau während seiner
langen Abwesenheit wieder geheiratet hatte und ihn für tot hielt. Er
hatte Furcht, wollte aber zu seinen Kindern, und ich bin mit ihm
gegangen. Das Haus lag in einer Gasse gegen den Fluß und hatte ein
schiefes
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